https://write.tchncs.de/@/Lehnstuhl-Gelehrter/atom.xml2024-03-10T12:57:19.646970+00:00<![CDATA[Holger ruft an zu weißen Flecken in der Ukraineberichterstattung]]>https://write.tchncs.de/~/GelehrterImLehnstuhl/Holger%20ruft%20an%20zu%20weißen%20Flecken%20in%20der%20Ukraineberichterstattung/2024-03-10T12:57:19.646970+00:00https://write.tchncs.de/@/Lehnstuhl-Gelehrter/2024-03-10T12:57:19.646970+00:00<![CDATA[<p dir="auto">Grundsätzlich mag ich den Podcast Holger ruft an auf Übermedien, aber der Beitrag <a href="https://uebermedien.de/92836/haben-zu-viele-journalisten-beim-thema-ukraine-eine-schere-im-kopf/" rel="noopener noreferrer">„Haben zu viele Journalisten beim Thema Ukraine eine Schere im Kopf?“</a> vom 1. März 2024 löste bei mir dann doch einige Fragezeichen aus. Holger Klein schien nicht viel vom Thema zu wissen, während sein Gast Moritz Gathmann einerseits widersprüchlich argumentierte, andererseits teilweise sehr seltsame Beispiele brachte. Keiner der beiden ging auf die Relevanz der diskutierten „blinden Flecken“ ein – nicht jedes Thema, das man verschweigt, ist ein blinder Fleck. Manchmal ist es auch einfach irrelevant. Die teilweise sehr starken Thesen Gathmanns wurden entweder gar nicht oder nur mit Einzelfällen belegt, gleichzeitig schien Holger Klein nichts von der sehr russlandfreundlichen Vergangenheit Moritz Gathmanns zu wissen (zumindest wurde dessen Tätigkeit für russische Medien erst offengelegt, nachdem in den Kommentaren auf diese hingewiesen wurden.) </p>
<br>
<p dir="auto">Garthmann spricht im Interview pauschal anderen Gruppen (Wissenschaftlern und Journalisten) ab, überhaupt sachlich zur Ukraine zu berichten, weil sie zu aktivistisch motiviert seien. Er belegt dieses Aktivismus allerdings nirgends, sondern nutzt ihn vor allem als Spiegel für sein eigenes, angeblich objektiveres Verständnis der Lage „vor Ort“. </p>
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<p dir="auto">Ich möchte hier einige der Argumente genauer ansehen und prüfen, ob sie wirklich relevant sind oder nicht.</p>
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<h3 dir="auto">A Die Staatlichkeit der Ukraine</h3>
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<h4 dir="auto">1. Die zwei Elfenbeintürme</h4>
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<p dir="auto">Ein sehr zentrales Argument von Moritz Gathmann lautet, die Medien blickten zu sehr aus der Wolkenperspektive auf den Konflikt. Es gehe vor allem um die Wirkung des Konflikts auf die internationale Ordnung, weniger um dessen Auswirkungen auf das Leben der Ukrainer.</p>
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<p dir="auto">Als wichtigstes Gegenargument bringt er dann aber einen ebenso wolkigen Aussichtspunkt: Die Staatlichkeit der Ukraine, die angeblich bei einer Fortführung des Konflikts gefährdet sei. Warum ist das für das tägliche Leben der Ukrainer so wichtig?</p>
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<h4 dir="auto">2. Staatlichkeit der Ukraine 2024 gefestigter als 2014.</h4>
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<p dir="auto">Warum die Staatlichkeit gefährdet sei, führt er aber nicht weiter aus – worin besteht die Gefahr? Warum hält er sie für hoch? </p>
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<p dir="auto">Die fehlende Untermauerung dieser These ist aber nicht einmal das einzige Problem, denn grundsätzlich können Staaten an den Folgen eines Kriegs zusammenbrechen, siehe etwa das Deutsche Reich nach dem 1. Weltkrieg.</p>
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<p dir="auto">Das passiert allerdings eher selten, denn Staaten sind ausgesprochen widerstandsfähige Gebilde. Mir fallen mindestens drei historische Beispiele ein, in denen Staaten deutlich schlimmere Verluste hinnehmen musste als die Ukraine heute, ohne dass es zu einem Zusammenbruch kam:</p>
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<p dir="auto"> • Die Ukraine verlor laut einer <a href="https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2307372120" rel="noopener noreferrer">Studie aus dem August 2023</a> im ersten Kriegsjahr etwa 223.000 Soldaten durch Tod, Verwundung oder Kriegsgefangenschaft.</p>
<br>
<p dir="auto"> • Paraguay verlor im Guerra de la Triple Alianza nahezu seine gesamte männliche Einwohnerschaft: Von 150.000 Männern (zwischen 13 und 70) lebten am Ende des Krieges noch 28.000. Trotzdem war die Staatlichkeit Paraguays nie gefährdet.</p>
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<p dir="auto"> • In Frankreich waren während des 1. Weltkriegs die wichtigen nordfranzösischen Industriegebiete vom Deutschen Reich besetzt, es verlor etwa 325.000 Soldaten pro Kriegsjahr. Auf die Stabilität der Dritten Republik hatte dies keinen Einfluss.</p>
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<p dir="auto"> • Im Koreakrieg wurden beide Seiten teilweise bis in kleinste Enklaven zurückgedrängt. Südkorea kontrollierte kurz nach Kriegsbeginn nur noch das Gebiet um Busan, Nordkorea wurde in der Gegenoffensive teilweise bis in abgelegene Bergregionen an der Grenze zu China zurückgedrängt – am Ende war Korea größtenteils verwüstet, ohne dass sich die Grenze zwischen beiden Koreas verschoben hätte oder die Handlungsfähigkeit eines der Koreas verloren ging.</p>
<br>
<p dir="auto">Neben diesen historischen Beispielen, in denen andere Staaten wesentlich schlimmere Verluste verkrafteten, spricht aber auch die Entwicklung in der Ukraine seit 2014 gegen einen drohenden Verlust der Staatlichkeit. Im Jahr 2014 hatten sich verschiedene Oligarchen als nahezu unabhängige Gouverneure mit eigenen Privatarmeen etabliert, nur mit deren Hilfe konnte die Ukraine überhaupt im Donbas standhalten. Seither wurden diese Privatarmeen in die staatlichen Streitkräfte eingegliedert, der Einfluss der Oligarchen <a href="https://www.nytimes.com/2024/01/15/world/europe/ukraine-oligarchs-crackdown.html" rel="noopener noreferrer">massiv zurückgedrängt</a>. Die ukrainische Regierung ist heute also durchsetzungsfähiger als zu Beginn des Krieges.</p>
<br>
<h4 dir="auto">3. Russland will die Staatlichkeit der Ukraine vernichten</h4>
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<p dir="auto">Dazu kommt ein dritter Punkt: <a href="https://tass.com/politics/1755187" rel="noopener noreferrer">Russland will die Ukraine als Staat vernichten</a>. Das ist erklärtes Kriegsziel, wie Dmitri Medwedew, der stellvertretende Vorsitzendes des Sicherheitsrat der Russischen Föderation, gerade wieder verkündet hat: „One of the former Ukrainian leaders said once that Ukraine was not Russia. This concept must disappear forever. Ukraine certainly is Russia.“ </p>
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<p dir="auto">Vorsitzender des Sicherheitsrat ist qua Gesetz immer der russische Präsident, Medwedew ist also das ranghöchste Mitglied des Sicherheitsrats direkt nach Putin. Der Sicherheitsrat der Russischen Föderation wird vom Präsidenten der Russischen Föderation aus von ihm selbst handverlesenen Politikern gebildet. Da sitzen also keine verrückten Hinterbänkler, die auch mal was sagen wollten, sondern Leute, die Putin für loyal und zuverlässig hält. Mit anderen Worten: Was Medwedew da sagt, ist kein Zufall, kein blöder Fehler, kein durchgeknallter Oppositionspolitiker, sondern die Aussage eines ranghohen Politikers mit engsten Verbindungen zu Putin. </p>
<br>
<p dir="auto">Bei der TASS handelt es sich um die staatliche russische Nachrichtenagentur, also kein merkbefreites Alternativmedium, sondern das offizielle Sprachrohr der russischen Regierung.</p>
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<p dir="auto">(Um die Situation mal auf deutsche Verhältnisse zu übertragen: Das wäre ungefähr so als wenn der Kanzleramtsminister während eines Konflikts mit Polen von einem Deutschland in den Grenzen von 1871 schwadroniert und das dann 1:1 vom Bundespresseamt verbreitet wird.)</p>
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<p dir="auto">Mit anderen Worten: Selbst wenn die Ukraine zu Friedensgespräche mit Russland bereit wäre, läge die Forderung nach Aufgabe der Eigenstaatlichkeit weiter auf dem Tisch. Sie kann dieser Gefahr weder durch Friedensgespräche noch durch eine Kapitulation umgehen.</p>
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<p dir="auto">Das Thema möglicher Verlust der ukrainischen Staatlichkeit ist also kein blinder Fleck, sondern ein irrelevantes Gedankenspiel aus einem Elfenbeinturmzimmer hoch über den Wolken.</p>
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<h3 dir="auto">B Unkritische Haltung gegenüber der Ukraine</h3>
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<p dir="auto">Das zweite wichtige Argument Gathmanns lautet, die Berichterstattung sei gegenüber der Ukraine zu unkritisch, geradezu willfährig.</p>
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<p dir="auto">Hierfür nennt er vor allem zwei Beispiele: Den Bedarf an einer Akkreditierung für Journalisten, die in die Nähe der Front reisen wollen, und Berichte zu zivilen Opfern durch ukrainische Handlungen.</p>
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<h4 dir="auto">1. Akkreditierung für Journalisten</h4>
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<p dir="auto">Moritz Gathmann spricht davon, dass es schwierig sei, die Akkreditierung zu erhalten, wenn man nicht vollständig auf ukrainischer Linie berichte. Er nennt dafür genau ein Beispiel, nämlich Christian Wehrschütz, ORF-Korrespondent in der Ukraine. Dem war die Akkreditierung tatsächlich zunächst verweigert worden, bevor er sie <a href="https://taz.de/Russische-Propagandavideos-beim-ORF/!5953272/" rel="noopener noreferrer">vor ukrainischen Gerichten erfolgreich einklagte</a>.</p>
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<p dir="auto">Gathmann verschweigt hierbei aber einen wichtigen Punkt: Christian Wehrschütz wurde von seinem eigenen Arbeitgeber (dem ORF) gerügt, weil er in seiner Funktion als ORF-Korrespondent in mindestens <a href="https://oe1.orf.at/programm/20230901/730416/Krieg-Luegen-und-Videos" rel="noopener noreferrer">zwei Fällen ungeprüft russische Propaganda verbreitete</a>. Darüber hinaus gab es weitere Fälle, wo er als Privatperson Inhalte teilte, die dem Narrativ der russischen Propaganda entsprechen.</p>
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<p dir="auto">Wenn selbst jemand wie Christian Wehrschütz eine Akkreditierung erhält, scheint mir die kein Problem, sondern lediglich eine lästige Formalie zu sein.</p>
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<h4 dir="auto">2. Berichte über ukrainische Kollateralschäden</h4>
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<p dir="auto">Laut Gathmann werde in deutschen Medien nicht von Kollateralschäden durch ukrainische Kampfhandlungen berichtet. Er nannte dafür zwei Beispiele: Einen Raketeneinschlag auf den <a href="https://www.tagesschau.de/ausland/europa/new-york-times-ukraine-kostjantyniwka-100.html" rel="noopener noreferrer">Markt von Kostjantyniwka</a> und vage Andeutungen von <a href="https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-donezk-lngterminal-100.html" rel="noopener noreferrer">Bombardierungen im Donbas</a>.</p>
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<p dir="auto">Es stimmt, dass deutsche Medien zunächst die ukrainische Position übernahmen, wonach es sich um einen russischen Angriff handele. Nachdem die New York Times die Angaben überprüft hatte und auf die Ukraine als Verursacher verwies, nahmen aber die Medien diese Recherche auf und korrigierten ihre ursprünglichen Berichte bzw. veröffentlichten neue Artikel mit Hinweis auf den wahren Verursacher.</p>
<br>
<p dir="auto">Gleiches gilt für Angriffe auf den Donbas, deutsche Medien berichteten z.B. ausführlich über ukrainische Artillerieangriffe auf die Stadt Donezk.</p>
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<p dir="auto">Es gibt sogar noch mehr Beispiele, in denen Gathmanns Behauptung gerade nicht zutrifft:</p>
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<p dir="auto">Auch beim <a href="https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/polen-rakete-einschlag-ukraine-krieg-russland-100.html" rel="noopener noreferrer">Raketeneinschlag in Przewodow</a> berichteten Medien von der Ukraine als Verursacher, obwohl diese das vehement bestritt.</p>
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<p dir="auto">Ebenso wurde ein Bericht von Amnesty International über <a href="https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/ukraine-kampftaktik-der-ukrainischen-armee-gefaehrdet-zivilpersonen" rel="noopener noreferrer">ukrainische Kriegsverbrechen</a> weiträumig in den Medien besprochen, obwohl nicht nur die ukrainische Regierung, sondern auch die ukrainische Sektion von Amnesty International widersprachen.</p>
<br>
<p dir="auto">Deutsche Medien berichten also, entgegen Gathmanns Behauptungen, sehr wohl über ukrainische Kriegsverbrechen und zivile Kollateralschäden durch ukrainische Handlungen. Wenn es hier eine Schlagseite zugunsten der Ukraine gibt, dann aus einem einfachen Grund: Die Ukraine verübt weniger Kriegsverbrechen als Russland und verursacht weniger Kollateralschäden – zumindest laut Angaben des <a href="https://www.ohchr.org/en/countries/ukraine" rel="noopener noreferrer">Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte</a>, <a href="https://www.amnesty.de/informieren/laender/ukraine" rel="noopener noreferrer">Amnesty Internationals</a> und <a href="https://www.hrw.org/de/europe/central-asia/ukraine" rel="noopener noreferrer">Human Rights Watch</a>.</p>
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<h4 dir="auto">3. Rekrutierungspraxis der Ukraine</h4>
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<p dir="auto">Als weiteren Punkt sprach Garthmann über menschenrechtswidrige Praktiken der Ukraine bei der <a href="https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/ukraine-rekrutierung-kritik-100.html" rel="noopener noreferrer">Mobilisierung und Rekrutierung von Soldaten für die ukrainische Armee</a>, die angeblich nicht in den Medien besprochen würden. Tatsächlich griffen deutsche Medien ein entsprechendes Video von Radio Free Europe auf.</p>
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<p dir="auto">Das ist allerdings einer der wenigen Punkte, in denen ich Garthmann zumindest teilweise recht geben würde: Dieses Thema dürfte ruhig intensiver beleuchtet werden.</p>
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<h4 dir="auto">4. Kriegsmüdigkeit in der Ukraine</h4>
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<p dir="auto">Garthmann spricht vage unbekannte Statistiken an, die eine Kriegsmüdigkeit in der ukrainischen Zivilgesellschaft belegen sollen. Angeblich wäre eine Mehrheit bereit, Gebietsverluste in Kauf zu nehmen, um den Krieg zu beenden.</p>
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<p dir="auto">Laut einer <a href="https://kiis.com.ua/?lang=ukr&cat=reports&id=1332&page=1" rel="noopener noreferrer">Umfrage der Kyiv International Institute of Sociology</a> im Dezember 2023 sprachen sich 74 % der befragten Ukrainer gegen einen Friedensvertrag aus, in dem die Ukraine auf Gebiete verzichtet. Anderslautende Darstellungen konnte ich ausschließen in russischen Quellen finden.</p>
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<h4 dir="auto">5. Darstellung des russischen Einflusses im Donbas</h4>
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<p dir="auto">Hier behauptet Garthmann, in deutschen Medien würde zu wenig über den einheimischen Ursprung des Aufstands im Donbas berichtet. Er sei zwar vom russischen Geheimdienst entzündet worden, aber zu Beginn hätte er vor allem auf Unterstützung der lokalen Einwohner beruht.</p>
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<p dir="auto">Diese Behauptung ist gleich doppelt falsch:</p>
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<ol dir="auto">
<li>Deutsche Medien berichteten bis zur Annexion des Donbas durch Russland stets von <a href="https://www.deutschlandfunkkultur.de/wording-im-konflikt-100.html" rel="noopener noreferrer">prorussischen Separatisten</a>, also von einer vor allem von der lokalen Bevölkerung getragenen Revolution.</li>
</ol>
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<ol dir="auto" start="2">
<li>Selbst in der Anfangszeit im April 2014 bestanden die Volksmilizen im Donbas nur zu 20 % aus Einheimischen, der Rest bestand aus verschiedenen russischen und tschetschenischen Paramilitärs. Die Volksmilizen und Paramilitärs wurden von Russland finanziert, versorgt und ausgestattet. Spätestens im August 2014 (also vier Monate nach Beginn der Kämpfe) kämpften <a href="https://www.ox.ac.uk/news/2022-03-15-expert-comment-putin-s-war-how-did-we-get-here-ukraine-2014" rel="noopener noreferrer">reguläre Einheiten der russischen Armee</a> an der Seite der Volksmilizen. Spätestens 2016 unterstanden Volksmilizen und Volksrepubliken vollständig russischer Kontrolle.</li>
</ol>
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<p dir="auto">Wenn es hier einen blinden Fleck in der Berichterstattung gibt, dann ist er der massive russische Einfluss Russlands auf den Aufstand im Donbas. </p>
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<h3 dir="auto">C Ausblenden des Leids der ukrainischen Zivilbevölkerung</h3>
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<p dir="auto">Schon in Punkt A) sprach ich Garthmanns Kritik an der Wolkenperspektive in der Berichterstattung an, er selbst gab dann aber nur ein Gegenspiel: Sein Erlebnis mit einer ukrainischen Witwe, die kurz zuvor erfahren hatte, dass ihr Mann gefallen war.</p>
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<p dir="auto">Hier hat er Recht. Wir sprechen sehr wenig über das alltägliche Leid in der Ukraine. Wenn, dann kommen vor allem Kriegsversehrte zur Sprache. </p>
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<p dir="auto">Er blendet aber auch etwas aus, nämlich das Leid der Zivilbevölkerung in den russisch besetzten Gebieten. Russische Truppen <a href="https://news.un.org/en/story/2023/10/1142617" rel="noopener noreferrer">foltern, verschleppen und rauben</a> die eroberten Gebiete systematisch aus, weil die russische Regierung sie russifizieren will.</p>
<br>
<h3 dir="auto">D Weiße Flecken bei Garthmanns blinden Flecken</h3>
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<p dir="auto">Während Garthmann im großen Maßstab sehr zweifelhafte blinde Flecken anführt, schweigt er über diverse andere Ereignisse in der Ukraine, über die man durchaus ausführlicher berichten sollte:</p>
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<h4 dir="auto">1. Ukrainische Industriepolitik</h4>
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<p dir="auto">Hier kommt vor allem die Landwirtschaft der Ukraine als Devisenbringer und ihr Einfluss auf die Getreidepreise in der Europäischen Union vor. Die Ukraine besitzt aber auch abseits davon eine starke Industrie, etwa im Bereich Luft- und Raumfahrt. Diese dürfte von einer <a href="https://www.reuters.com/business/aerospace-defense/ukraine-lures-western-weapons-makers-transform-defence-industry-2023-09-30/" rel="noopener noreferrer">Kriegswirtschaft enorm profitieren</a>, zulasten anderer Industrien. Auch selbst entwickelte Waffen der Ukraine werden selten angesprochen.</p>
<br>
<h4 dir="auto">2. Kunst und Kultur in der Ukraine</h4>
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<p dir="auto">Wie steht es um Kunst und Kultur in der Ukraine, wie wirkt sich der Krieg auf das kulturelle Leben aus?</p>
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<h4 dir="auto">3. Zivilgesellschaft und Demokratie</h4>
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<p dir="auto">Was bedeutet der Krieg für zivilgesellschaftliches Engagement und demokratische Teilhabe? Hat die starke Unterstützung der Truppe Auswirkungen auf die Unterstützung anderer sozial schwacher Gruppen? Solange der Krieg andauert, kann laut ukrainischen Gesetz <a href="https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/selenskyj-wahlen-ukraine-krieg-russland-100.html" rel="noopener noreferrer">nicht gewählt werden</a> – wie soll die Demokratie aufrechterhalten werden, wenn der Krieg noch Jahre dauert? Wie wirkt sich der Aufbau der ukrainischen Verwaltung auf die Widerstandsfähigkeit der Ukraine aus?</p>
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<h4 dir="auto">4. Einfluss verschiedener sozialer Gruppen</h4>
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<p dir="auto">Wie groß ist der Einfluss der Oligarchen in der Ukraine? Wie verteilt sich politische Macht allgemein?</p>
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<h3 dir="auto">Fazit</h3>
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<p dir="auto">Die Aussagen von Moritz Gathmann stehen alle auf schwankenden Boden. Selbst in den Fällen, in dem ich ihm zumindest teilweise zustimmen, übertreibt er die blinden Flecken stark. In vielen anderen Fällen nennt er für seine starken Anschuldigungen entweder keine Belege oder – wenn er Belege liefert – entkräften diese seine Aussagen nach Überprüfung. Er trägt keinerlei „blinden Flecken“ vor, die nicht auch in der russischen Propaganda vorkommen.</p>
<br>
<p dir="auto">Gleichzeitig versucht er, Leute mit anderer Meinung als vermeintlich voreingenommene Aktivisten zu diskreditieren, ohne dies in irgendeiner Weise zu untermauern. Das ist ein typisches Vorgehen beim Verbreiten von Verschwörungserzählungen.</p>
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<p dir="auto">Meinem Eindruck nach sieht Moritz Gathmann die Berichterstattung nicht kritisch, sondern ist aus seiner früheren Tätigkeit als Berichterstatter in und über Russland zumindest teilweise in russischen Verschwörungserzählungen verfangen.</p>
]]><![CDATA[Schamkampagne als Folge deutschen Lavierens bei Unterstützung der Ukraine]]>https://write.tchncs.de/~/GelehrterImLehnstuhl/Schamkampagne%20als%20Folge%20deutschen%20Lavierens%20bei%20Unterstützung%20der%20Ukraine/2023-01-08T14:18:28.397765+00:00https://write.tchncs.de/@/Lehnstuhl-Gelehrter/2023-01-08T14:18:28.397765+00:00<![CDATA[<p dir="auto">Im Augenblick wird in Zeitungen und auf Twitter erbittert diskutiert, wie die deutsche Unterstützung der Ukraine einzuschätzen sei. Liefert Deutschland genug? Beide Seiten zeigen dafür unterschiedliche interpretierte Statistiken, einmal nach Gesamtwert, einmal nach Pro-Kopf-Anteil der Hilfe, nach Anteil der Hilfe vom BIP … und kommen zu keinem Ergebnis.</p>
<br>
<p dir="auto">Sie können auch zu keinem Ergebnis kommen, weil es gar nicht um die Menge der deutschen Hilfslieferungen geht. Mengenmäßig <a href="https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/krieg-in-der-ukraine/lieferungen-ukraine-2054514" rel="noopener noreferrer">liefert Deutschland</a> recht viel. Es geht vielmehr um den Bruch zwischen dem Anspruch als Führungsmacht und dem tatsächlichen Verhalten der Bundesregierung.</p>
<br>
<p dir="auto">Die Ursache für diesen Bruch liegt im Verhalten von Olaf Scholz, der sich möglichst nicht in die Karten gucken lassen will. Diese Art der Führung galt im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus als Norm und hätte dem Fürsten von Braunschweig-Wolfenbüttel im Jahr 1722 gut zu Gesicht gestanden; denn die Leitlinie des aufgeklärten Absolutismus lautete „Alles für das Volk nichts durch das Volk“.</p>
<br>
<p dir="auto">Wir schreiben allerdings das Jahr 2022 und Scholz regiert im Rahmen einer Gewaltenverschränkung die Bundesrepublik Deutschland; die Leitlinie eines demokratischen Gemeinwesens lautet „Für das Volk, durch das Volk, mit dem Volk“. Das erfordert eine viel deutlichere Angabe von Zielen.</p>
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<p dir="auto">Natürlich kann ich auch als Führer einer Demokratie alles im Hinterzimmer entscheiden. Johannes Rau wies aber schon 2004 auf den <a href="https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2004/05/20040512_Rede.html" rel="noopener noreferrer">Preis dafür</a> hin:</p>
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<blockquote dir="auto">
<p>Misstrauen wächst auch dann, wenn wichtige politische Entscheidungen in immer kleineren Kreisen getroffen werden. Nun weiß jeder, dass es manchmal wirklich nötig ist, sich hinter verschlossenen Türen zu beraten, um zu einem Konsens oder zu einem Kompromiss zu kommen, den alle mittragen können.</p>
</blockquote>
<br>
<blockquote dir="auto">
<p>Solche Vereinbarungen schaffen nur dann Vertrauen, wenn die Verständigung echt ist, wenn kein fauler Kompromiss kaschiert wird und wenn alle sich an das halten, was sie gemeinsam verabredet haben.</p>
</blockquote>
<br>
<p dir="auto">Genau dieses Misstrauen schlägt auch Scholz entgegen, weil er keine klare Strategie vorgibt, sondern sich bei jeder Frage danach windet wie ein Aal. Das gilt für Deutschland, wo Behörden und Zivilgesellschaft nicht selbständig auf das erklärte Ziel zuarbeiten können. Das gilt aber auch für das Ausland, wo unsere Partner und Verbündeten nicht wissen, wo sie sinnvoll mit Deutschland zusammenarbeiten können.</p>
<br>
<p dir="auto">Einerseits pocht Scholz immer darauf, nur in Absprache mit den Partnern zu handeln. Andererseits beschreitet er frohgemut den deutschen Sonderweg, wenn es den eigenen Interessen nützt – sei es beim <a href="https://thediplomat.com/2022/12/olaf-scholzs-china-gamble/" rel="noopener noreferrer">Besuch in China</a>, sei es beim Versuch, mit dem „European Sky Shield“ <a href="https://www.jean-jaures.org/publication/european-skyshield-pourquoi-lallemagne-lance-un-bouclier-anti-missile-europeen-sans-la-france/" rel="noopener noreferrer">Frankreich</a> und <a href="https://thecradle.co/Article/News/15813?s=08" rel="noopener noreferrer">die USA</a> auszubooten.</p>
<br>
<p dir="auto">Die unklare Positionierung führt dann natürlich zu ständigen Nachfragen: Wie sieht es nun mit dieser <em>$Idee</em> aus? Es führt zu Kampagnen wie <a href="https://write.tchncs.de/tag/freetheleopards" title="freetheleopards" rel="noopener noreferrer">#freetheleopards</a>, weil eben niemand sicher weiß, ob Deutschland sich wieder nur ziert oder hier wirklich eine rote Linie zieht. Die Undeutlichkeit der deutschen Position führt zu Verärgerung und Missverständnissen bei den „Freunden und Partnern“, die Scholz so gerne vorschiebt.</p>
<br>
<p dir="auto">Sehr schön kann man das Problem am Beispiel der <a href="https://www.weser-kurier.de/politik/inland/kaum-etwas-bestellt-munitionskrise-bei-der-bundeswehr-doc7nte59czzrp1fvfldavj" rel="noopener noreferrer">Munitionsherstellung nachvollziehen</a>: Die Bundesregierung erwartet, dass die Rüstungsunternehmen in Vorleistung gehen. Die Rüstungsunternehmen hingegen erwarten Bestellungen, weil sie den Kurs der Regierung nicht abschätzen können.</p>
<br>
<p dir="auto">Wie man es besser macht, zeigt Ungarn: Kaum jemand drischt auf <a href="https://www.tagesspiegel.de/meinung/zahltag-fur-orban-der-schmusekurs-mit-putin-ist-zum-risiko-geworden-9067672.html" rel="noopener noreferrer">Ungarn</a> ein, weil es klar Position zugunsten Russlands bezieht – die EU behandelt Ungarn halt entsprechend. Ebenso die <a href="https://politik.watson.de/international/analyse/352662707-ukraine-krieg-warum-schweiz-und-israel-neutral-bleiben-und-welche-folgen-das-hat" rel="noopener noreferrer">Schweiz</a>, obwohl sie sich für neutral erklärt und keine Waffen liefert – Deutschland kauft einfach <a href="https://www.srf.ch/news/schweiz/schweizer-ruestungsindustrie-hat-die-schweiz-fuer-deutschland-als-ruestungslieferant-ausgedient" rel="noopener noreferrer">keine Schweizer Munition</a> mehr. Der <a href="https://news.yahoo.com/turkey-supports-ukraine-without-alienating-russia-100046689.html" rel="noopener noreferrer">Türkei</a> gelingt der Spagat zwischen Russland und der Ukraine. Klare Situation, klarer Umgang mit der Situation, keine große Kommunikation erforderlich. Man muss nur bereit sein, den Preis zu zahlen.</p>
<br>
<p dir="auto">Deutschland hingegen setzt sich mit seinem Lavieren zwischen alle Stühle:</p>
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<ul dir="auto">
<li>Russland sieht Deutschland als Feind, weil es die westliche Haltung eben doch vollständig unterstützt.</li>
</ul>
<br>
<ul dir="auto">
<li>Die östlichen Nachbarn sehen Deutschland als Zauderer, weil man ihm alles einzeln aus der Nase ziehen muss.</li>
</ul>
<br>
<ul dir="auto">
<li>Die neutralen Staaten sehen Deutschland als Teil des Westens, weil es immer noch innerhalb des westlichen Paradigmas handelt.</li>
</ul>
<br>
<p dir="auto">Dabei wäre es gar nicht verwerflich, keine Waffen zu liefern. Ich kann gut verstehen, wenn man solche Lieferungen zu heikel findet. Man sollte aber klarstellen, wie man unterstützt und wo man Grenzen zieht. Dann bräuchte es auch kein ständiges Nachbohren, kein In-Frage-Stellen jeder Hilfsidee, sondern sowohl innerhalb wie außerhalb Deutschlands wäre klar, zu welchen Projekten man um Unterstützung bitten kann.</p>
<br>
<p dir="auto">Hier nun ein paar Beispiele, wie Deutschland sich klar positioniert hätte, ohne sich zur Lieferung westlicher Waffensystem zu verpflichten:</p>
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<h2 dir="auto">1. Versorgung mit sowjetischen Waffensystemen</h2>
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<p dir="auto"><strong>Wir liefern keine westlichen Waffen, aber wir versuchen alles an sowjetischen Material zu kaufen, was es in der Welt gibt.</strong></p>
<br>
<p dir="auto">Diese Idee kam mit den Ringtauschen bereits früh auf, wurde aber nie groß forciert. Tatsächlich gab es nur <a href="https://www.bmvg.de/de/presse/deutsch-slowenischer-ringtausch-kurz-vor-dem-abschluss-5501188" rel="noopener noreferrer">vier solche Ringtausche</a>, allesamt in eher geringem Umfang und nur im Kreis der Verbündeten. Sie führten auch allgemein zu Unzufriedenheit: Die Ukraine hätte den deutschen Ramsch genommen, dahin wollte Deutschland aber nicht liefern. Länder, die für die Ukraine nützliches Material anboten, hatten kein Interesse am deutschen Ramsch. Zumindest beim Ringtausch mit Griechenland lief auch die <a href="https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/deutschland-kuendigt-ringtausch-mit-griechenland-an/" rel="noopener noreferrer">Kommunikation total schief</a>.</p>
<br>
<p dir="auto">Damit ein Ringtausch funktioniert, müsste Deutschland mehr als den üblichen Preis für die sowjetischen Waffen bezahlen. Wenn sie nur im Gegenwert des eigenen Tauschmaterials liefern will, muss sie es direkt tun – beim Ringtausch kommt noch eine Gebühr obendrauf. Beides wollte die Bundesregierung nicht.</p>
<br>
<p dir="auto">Die USA und die Niederlande zeigten, wie ein Ringtausch funktionieren kann: Sie <a href="https://military-wiki.com/moroccan-t-72b-to-ukraine-first-african-country-to-send-military-aid-to-ukraine/" rel="noopener noreferrer">kauften Marokko</a>, das sich bis dahin für neutral erklärte hatte, deren T-72 ab und schickten sie in die Ukraine.</p>
<br>
<p dir="auto">Dieser Weg hätte auch Deutschland offen gestanden. Viele Länder benutzen sowjetische Waffen, noch aus der Zeit des Kalten Kriegs. <a href="https://www.military.africa/2022/03/russia-ukraine-crises-may-disrupt-africas-military-supply-chain/" rel="noopener noreferrer">Munition und Ersatzteile</a> kamen aber aus Russland und der Ukraine, stehen also im Augenblick nicht zur Verfügung. Einige liebäugelten sowieso mit einer Modernisierung. Durch geschickte Verhandlungen hätte Deutschland hier zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen können – begnügte sich aber mit dem Weg der größten Bequemlichkeit.</p>
<br>
<h2 dir="auto">2. Bekämpfung russischer Agenten- und Korruptions-Netze</h2>
<br>
<p dir="auto">Zugegebenermaßen bedeutet Punkt 1 immer noch: Wir liefern Waffen. Zwar keine deutschen Waffen, aber immer noch Waffen. Vielleicht kann Scholz das intern nicht durchsetzen.</p>
<p dir="auto"><strong>Selbst dann hätte er noch Optionen, aktiv gegen Russland vorzugehen: indem er russische Agenten- und Korruptions-Netzwerke zerschlägt.</strong></p>
<p dir="auto">Russland führt schon lange <a href="https://netzpolitik.org/2020/russische-desinformation-das-netzwerk-gefaelschter-auslandsmedien/" rel="noopener noreferrer">Desinformationskampagnen</a> gegen den Westen, finanziert <a href="https://index.hu/english/2016/10/28/russian_diplomats_exercised_with_hungarian_cop_killer_s_far-right_gang/" rel="noopener noreferrer">Extremisten</a> und <a href="https://www.reuters.com/investigates/special-report/ukraine-crisis-germany-influencers/" rel="noopener noreferrer">Agitatoren</a>, verübt <a href="https://www.bellingcat.com/news/2021/04/20/senior-gru-leader-directly-involved-with-czech-arms-depot-explosion/" rel="noopener noreferrer">Anschläge</a>, spioniert <a href="https://www.welt.de/wirtschaft/article230796863/Technologie-Klau-Zughersteller-fuerchtet-russische-Industriespionage.html" rel="noopener noreferrer">Wirtschaft</a> und <a href="https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/hacker-bundestag-117.html" rel="noopener noreferrer">Staat</a> aus, <a href="https://www.csis.org/analysis/kremlin-playbook" rel="noopener noreferrer">korrumpiert Entscheidungsträger</a> und <a href="https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/krisen/id_91326498/tiergartenmord-putins-auftragsmord-in-deutschland-heftige-ohrfeige-.html" rel="noopener noreferrer">tötet Exilrussen</a>. Dabei greifen sie auf <a href="https://cms.falter.at/blogs/rmisik/2022/04/21/der-kgb-mafia-kapitalismus/" rel="noopener noreferrer">jahrzehntealte Verbindungen</a> zur <a href="https://ecfr.eu/publication/crimintern_how_the_kremlin_uses_russias_criminal_networks_in_europe/" rel="noopener noreferrer">organisierten Kriminalität</a> zurück.</p>
<br>
<p dir="auto">Hier steht Deutschland zunächst einmal schlecht da: Russische Geheimdienste <a href="https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bnd-warum-ein-mutmasslicher-spion-zugang-zu-brisanten-informationen-hatte-a-59133840-4d22-4db7-9ab2-ccc9e46b6557" rel="noopener noreferrer">unterwanderten den BND</a> an zentraler Stelle. Warnungen von CIA und anderen Geheimdiensten gingen ins Leere, obwohl bereits beim russischen Einmarsch in die Ukraine klar wurde, dass andere Geheimdienste deutlich besser über die russischen Pläne informiert waren. Auch beim Kampf gegen <a href="https://www.tagesschau.de/inland/faeser-organisierte-kriminalitaet-103.html" rel="noopener noreferrer">organisierte Kriminalität</a>, <a href="https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/verbrechen/organisierte_kriminalitaet/geldwaesche-paradies-deutschland-110.html" rel="noopener noreferrer">Geldwäsche</a> und <a href="https://www.welt.de/wirtschaft/article187807930/Steuerhinterziehung-Deutschland-im-EU-Vergleich-auf-Rang-zwei.html" rel="noopener noreferrer">Steuerhinterziehung</a> glänzt Deutschland nicht gerade. Laut <a href="https://ocindex.net/country/germany" rel="noopener noreferrer">Global Organized Crime Index</a> liegt Deutschland bei der Kriminalitätsrate irgendwo im Mittelfeld.</p>
<br>
<p dir="auto">Deutschland steht aber keineswegs auf verlorenem Posten. Die Widerstandskraft gegen organisierte Kriminalität gehört zu den besten der Welt. Beim <a href="https://www.transparency.org/en/cpi/2021/index/deu" rel="noopener noreferrer">Corruption Perceptions Index</a> steht Deutschland solide auf Platz 10. Die Substanz für den Kampf steht zur Verfügung.</p>
<br>
<p dir="auto">Es gibt auch erste Fortschritte:</p>
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<ul dir="auto">
<li>Das <a href="https://www.justiz.bayern.de/presse-und-medien/pressemitteilungen/" rel="noopener noreferrer">Traunsteiner Modell</a> zum Kampf gegen grenzübergreifende Kriminalität.</li>
</ul>
<br>
<ul dir="auto">
<li>Die <a href="https://www.zoll.de/DE/Der-Zoll/Aufgaben-des-Zolls/Schutz-fuer-Buerger-Wirtschaft-und-Umwelt/FIU-Aufgaben/fiu-aufgaben_node.html" rel="noopener noreferrer">Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen</a> zum Kampf gegen Geldwäsche.</li>
</ul>
<br>
<ul dir="auto">
<li>Die <a href="https://commission.europa.eu/law/cross-border-cases/judicial-cooperation/networks-and-bodies-supporting-judicial-cooperation/european-public-prosecutors-office-eppo_de" rel="noopener noreferrer">Europäische Staatsanwaltschaft</a> gegen Subventionsbetrug.</li>
</ul>
<br>
<ul dir="auto">
<li><a href="https://euvsdisinfo.eu/" rel="noopener noreferrer">EUvsDisinfo</a> als zentraler Analyse-Stelle für Desinformations-Kampagnen.</li>
</ul>
<br>
<ul dir="auto">
<li>Das <a href="https://www.welt.de/wirtschaft/article243048271/Kriminalitaet-Deutsche-Geldwaeschebekaempfung-laeuft-schleppend.html" rel="noopener noreferrer">Transparenzregister</a> zum Nachverfolgen von wirtschaftlich Berechtigte.</li>
</ul>
<br>
<p dir="auto">Es gibt auch weitere Ansätze: etwa ein <a href="https://www.delorscentre.eu/en/publications/detail/publication/eu-asset-register" rel="noopener noreferrer">Vermögensregister</a> zum Aufdecken von Steuerspar- und Geldwäsche-Briefkästen.</p>
<br>
<p dir="auto">Ein konsequenter Kampf gegen die russischen Strukturen hätte den Sanktionen deutlich mehr Biss verliehen. Russlands Einfluss wäre gesunken. Eingezogenes illegales Vermögen aus russischen Quellen hätte der Ukraine zu Verfügung gestellt werden können.</p>
<br>
<p dir="auto">Ein solches Verhalten hätten die Verbündeten vermutlich zähneknirschend akzeptiert, wenn wir uns gleichzeitig an der humanitären Versorgung der Ukraine beteiligen und nicht den Eindruck erwecken, aus der Angelegenheit Gewinn zu schlagen.</p>
<br>
<h2 dir="auto">3. Erforschung von Minderheiten im ehemaligen Zarenreich</h2>
<br>
<p dir="auto">Unser Blick auf Russland wird immer noch durch den Blick auf Moskau dominiert, obwohl in Russland eine erstaunliche Vielfalt herrscht: Das Zarenreich war ein <a href="https://www.chbeck.de/russland-vielvoelkerreich/product/28565542" rel="noopener noreferrer">Vielvölkerstaat</a>. Moskau verdeckte als Vorhang quasi alle anderen Geschichten.</p>
<br>
<p dir="auto">Putin möchte auch, dass das so bleibt: Nach der Annexion der Krim unterdrückte er als erstes die <a href="https://spectator.org/the-unseeing-years-russias-ethnic-cleansing-of-crimea/" rel="noopener noreferrer">Krimtartaren</a> sowie <a href="https://observers.france24.com/en/20140827-crimea-forced-russification-russia-ukraine" rel="noopener noreferrer">Ukrainer</a> und siedelte <a href="https://eurasianet.org/russia-migration-helping-to-russify-crimea" rel="noopener noreferrer">ethnische Russen</a> an. (Deshalb empörte sich Russland auch gegen <a href="https://www.deutschlandfunk.de/eurovision-song-contest-eine-krimtatarin-fuer-die-ukraine-102.html" rel="noopener noreferrer">Jamalas Lied im ESC 2016</a>: Sie wussten, dass der Text nicht nur sowjetisches Vergangenheit beschrieb, sondern auch, was Russland genau in dem Augenblick tat.)</p>
<br>
<p dir="auto">Beim Einmarsch in die Ukraine zeigte sich das gleiche Bild: <a href="https://www.lemonde.fr/en/international/article/2022/11/11/amnesty-international-reports-deportation-and-forced-adoption-of-ukrainian-children-in-russia_6003857_4.html" rel="noopener noreferrer">Zwangsadoptionen</a> ukrainischer Kinder in russische Familien, <a href="https://www.independent.co.uk/news/world/europe/russia-ukraine-russify-identity-conquer-b2092823.html" rel="noopener noreferrer">Russifizierung des Schulunterrichts</a>, Verschleppung von Ukrainern in <a href="https://inews.co.uk/news/putin-mariupol-survivors-remote-corners-russia-investigation-network-camps-1615516" rel="noopener noreferrer">entlegene Gebiete Russlands</a>.</p>
<br>
<p dir="auto">Russland möchte also Geschichte vereinheitlichen und zentralisieren. Sowohl die EU als auch Deutschland erfreuen sich eines ausgeprägten Regionalismus. Man könnte diese regionale Vielfalt also in Eintracht mit dem europäischen Selbstbild fördern und die Erforschung der russischen Regional- und Minderheitengeschichte gezielt unterstützen. Forschungsarbeiten ins Englische übersetzen. Alles tun, um diese Vielfalt im Bewusstsein zu halten. Eine Freie Universität für Eurasien quasi, um dem russischen Hegemonialanspruch zu brechen und die Forderungen nach der <a href="https://www.ponarseurasia.org/time-to-question-russias-imperial-innocence/" rel="noopener noreferrer">Dekolonisierung Russlands</a> zu unterstützen.</p>
<br>
<p dir="auto">Natürlich hätte solch eine enorme Zurückhaltung Folgen: Deutschland dürfte in den kommenden Jahren kaum darauf hoffen, seinerseits mehr als symbolisch unterstützt zu werden. Die Zinsen dieser Friedensanleihe müsste Deutschland noch lange zurück zahlen. Aber wenn Scholz glaubhaft versichert hätte, innenpolitisch ließe sich nicht mehr durchsetzen, hätten unsere Nachbarn es zähneknirschend akzeptiert.</p>
<br>
<h2 dir="auto">4. Auf dem internationalen Parkett neue Verbündete gewinnen</h2>
<br>
<p dir="auto">Der Westen sanktioniert Russland, aber unter diesen Sanktionen leidet nicht nur Russland selbst, sondern indirekt auch Länder in <a href="https://www.handelsblatt.com/politik/international/schwellenlaender-demuetige-bitte-um-oel-wie-asiens-krisenstaaten-zu-vasallen-russlands-werden/28488464.html" rel="noopener noreferrer">Asien</a> und <a href="https://www.n-tv.de/politik/In-Afrika-hat-Putin-noch-Fans-article23181553.html" rel="noopener noreferrer">Afrika</a>. Russland springt hier als „Retter in der Not“ ein. Diese Rolle hätte auch Deutschland übernehmen können, indem es seine wirtschaftliche und diplomatische Macht in die Waagschale wirft und gezielt auf diese Länder zugeht.</p>
<br>
<p dir="auto">Stattdessen konzentrierte Deutschland sich auf die Versorgung … Nun ja: Deutschlands. Wir betrieben eine <a href="https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/cem-oezdemir-keine-getreideknappheit-in-deutschland,T5zAXyf" rel="noopener noreferrer">extensive Nabelschau</a> und erwarteten, dass die anderen schon das Richtige tun würden. Für die Unterstützung der heimischen Wirtschaft investierte Deutschland hunderte Milliarden, für die Unterstützung der Schwellenländer lediglich 0,045 Milliarden.</p>
<br>
<p dir="auto">Verbündete gewinnt man nicht, indem man sie unter Druck setzt. Das kann man im Notfall mal tun, aber im Regelfall sollten Verbündete sich als geschätzte Partner fühlen. Um dieses Vertrauen aufzubauen, muss man in Vorleistung gehen und etwas anbieten.</p>
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<p dir="auto">Auch innenpolitisch hätte man hier punkten können. So forderten etwa die Landwirte, die Flächenstilllegung wegen der Getreidekrise aufzuheben. Die Regierung hätte hier sagen können: Gut, aber dann müssen wir sicherstellen, dass das Getreide auch diesem Zweck dient. Ihr verkauft uns die Ernte schon jetzt und zwar zu <a href="https://www.boell.de/de/2022/03/18/getreidekrise-aussetzen-der-eu-flaechenstilllegung-hat-kaum-einfluss-auf-globale" rel="noopener noreferrer">einem Preis</a>, der für humanitäre Güter angemessen ist. Stattdessen entschied sie sich natürlich für <a href="https://www.agrarheute.com/politik/oezdemir-stilllegung-fruchtfolge-aussetzen-fragen-bleiben-596499" rel="noopener noreferrer">bürokratisches Mikromanagement</a>.</p>
<br>
<h2 dir="auto">Fazit und Abschluss</h2>
<br>
<p dir="auto">Bitte nicht falsch verstehen: Das alles sind hypothetische Überlegungen, was Scholz <em>hätte</em> tun können. Sie setzen voraus, dass er die Ukraine <em>aktiv unterstützen wollte</em> und dafür <em>Mehrheiten organisieren müsste</em>. Tatsächlich <a href="https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw17-de-selbstverteidigung-ukraine-891272" rel="noopener noreferrer">ermächtigte der Bundestag</a> die Regierung aber bereits im April zur Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. Scholz konnte und durfte. Er wollte nicht.</p>
<br>
<p dir="auto">Damit kommen wir wieder zum Bild des absolutistischen Fürsten vom Anfang. Denn Scholz ging es nie um die Unterstützung der Ukraine und die Abstimmung mit seinen Partnern. Er und sein <a href="https://twitter.com/CarloMasala1/status/1611339735699439618" rel="noopener noreferrer">wirklicher und geheimer Besonnenenrat</a> hielten die Waffenlieferung schlichtweg für falsch. Das wollten sie aber nicht offen zugeben, weil <a href="https://www.waz.de/meinung/ukrainekrieg-kuehler-kopf-bei-der-lieferung-deutscher-panzer-id237297343.html" rel="noopener noreferrer">hysterisches Weibsvolk</a> und <a href="https://taz.de/Debatte-um-Panzerlieferungen-nach-Kiew/!5879731/" rel="noopener noreferrer">emotionaler Pöbel</a> die Waffenlieferungen ja forderten. Von Rochow’sche Tiraden gegen <a href="https://kontrast.at/third-person-effekt-erklaerung/" rel="noopener noreferrer">beschränkt einsichtsfähige Untertanen</a> kommen heute einfach nicht mehr sonderlich gut an – schließlich braucht man bei der nächsten Wahl deren Stimmen.</p>
<br>
<p dir="auto">Stattdessen setzte er auf Taktiken, mit denen verbitterte subalterne Beamte Vorschriften sabotieren und lässt entsprechende Initiativen im <a href="https://www.businessinsider.de/politik/deutschland/die-ukraine-bat-deutschland-um-funkgeraete-nachtsichtgeraete-und-schutzanzuege-doch-die-regierung-liess-die-anfrage-offenbar-versanden/" rel="noopener noreferrer">bürokratischen Klein-Klein versanden</a>. Wenn er seine Position erklärt, verliert er sich in <a href="https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/zapp/Olaf-Scholz-und-die-Medien-Viele-Worte-wenig-Inhalt,zapp13500.html" rel="noopener noreferrer">bedeutungslosen Worthülsen</a>, die mit ihren <a href="https://www.foreignaffairs.com/germany/olaf-scholz-global-zeitenwende-how-avoid-new-cold-war" rel="noopener noreferrer">Andeutungen und Halbwahrheiten</a> teilweise an Desinformation grenzen.</p>
<br>
<p dir="auto">Scholz sieht sie sich selbst als besonnene Führungsperson. Aus Sicht aller anderen verhält er sich wie untergeordneter Offizier, der eine missliebige Anordnung ausführen soll. Der eigentlich besser weiß, wie man vorgehen sollte, aber keine Möglichkeit hat, diese Ansicht durchzusetzen. Dieser Widerspruch, und nichts anderes, führt zum schiefen Bild Deutschlands.</p>
<br>]]><![CDATA[Plume: Erfahrungsbericht für Fediverse-Blog]]>https://write.tchncs.de/~/GelehrterImLehnstuhl/Plume:%20Erfahrungsbericht%20für%20Fediverse-Blog/2022-12-02T14:56:05.051417+00:00https://write.tchncs.de/@/Lehnstuhl-Gelehrter/2022-12-02T14:56:05.051417+00:00<![CDATA[<p dir="auto">Auf diesem Blog teste ich Plume, eine ActivityPub-basierte Blog-Software. Das bedeutet, sie gehört (wie z.B. Mastodon) zum Fediverse.</p>
<p dir="auto">Theoretisch verspricht das Vorteile, weil man Mastodon als Kommentarbereich nutzen könnte – man hätte also Substack und Twitter in einem. Praktisch bietet sie im Augenblick (Dezember 2022) nur eine spartanische Blogging-Lösung, die weder an Komfort noch an Nutzen mit Alternativen mithält. Plume befindet sich im Alpha-Status und das merkt man auch.<br></p>
<p dir="auto">Die Fediverse-Einbindung ließe sich z.B. nutzen, um sich auf andere Diskussionen zu beziehen, sie in längere Texte einzubinden und die Diskussion quasi ohne „Medienbruch“ fortzuführen. Praktisch finde ich aber keine Möglichkeit, mit Plume anderen Fediverse-Konten zu folgen – und für das Verteilen der neuen Nachrichten ist ActivityPub jetzt nicht besser als RSS. Ich brauche also neben Plume weiterhin ein normales Mastodon-Konto für Diskussionen.<br></p>
<p dir="auto">Die Texte schreibt man als pure Markdown-Texte ohne jegliche Komfortfunktionen wie z.B. Unterstützung beim Einfügen von Verweisen oder Schriftformatierungen. Trotzdem wirft mir der Editor immer wieder unnötige Zeilenumbrüche dazwischen, die mühsam per Hand entfernt werden müssen. Auch die Dokumentation kommt dürftig daher.<br></p>
<p dir="auto">Zusammengefasst: Plume bietet mir die Nachteile eines Static Site Generators, weil ich nur eingeschränkt mit Markdown arbeiten kann. Gleichzeitig erfordert es aber eine aktive Server-Instanz, die einfacher angegriffen werden kann als der Generator. Da ich eh ein Mastodon-Konto brauche, um die Links zu verteilen, macht es auch keinen Unterschied, ob das auf eine andere Activity-Pub-Anwendung oder eine statische Seite verweist.<br></p>
<p dir="auto">Im Augenblick ist Plume nichts weiter als ein interessantes Experiment, aber keine sinnvolle Anwendung für den produktiven Einsatz. Ich werde hier trotzdem weiterhin hin und wieder etwas schreiben, um die Entwicklung der Software zu verfolgen. Für meine Haupt-Blogs werde ich es vorerst aber nicht einsetzen.</p>
]]><![CDATA[Rußland kämpft um die eingefrorene Zeit]]>https://write.tchncs.de/~/GelehrterImLehnstuhl/Rußland%20kämpft%20um%20die%20eingefrorene%20Zeit/2022-12-01T19:40:40.798629+00:00https://write.tchncs.de/@/Lehnstuhl-Gelehrter/2022-12-01T19:40:40.798629+00:00<![CDATA[<p dir="auto">Die Ewigkeit lässt sich mit dem menschlichen Verstand nicht erfassen. Aus diesem Grund ordnen wir der Ewigkeit auch extrem willkürlich Qualitäten zu. Etwas, das „schon immer“ da war, existiert vielleicht erst ein paar Monate. Gleichzeitig kann sich etwas uraltes noch immer fremd anfühlen.</p>
<p dir="auto">Was als ewig angesehen wird, unterscheidet sich von (Sub-)Kultur zu (Sub-)Kultur. Etwas, was Gruppe 1 als ewig anerkennt, erscheint Gruppe 2 nur als kurzfristige Änderung. Diese unterschiedlichen Ansichten können zu Streit oder sogar zu Kriegen führen, wenn es die „ewige“ Zugehörigkeit von Territorien betrifft. Der Unterschied liegt im Mythos und Versuche, sie im Logos aufzulösen, scheitern an <a href="https://www.die-inkognito-philosophin.de/blog/kognitive-verzerrung" rel="noopener noreferrer">kognitiven Verzerrungen</a>.</p>
<p dir="auto">Im Rahmen der russischen Invasion in die Ukraine gibt es gleich mehrere solche Mythen. Ein wichtiger Vorwurf zu Beginn des Krieges war: Die Unterstützung der Ukraine sei rassistisch. Den Ukrainern würde nur geholfen, weil sie blond und blauäugig seien. Wenn man sich historische Bilder anguckt, stellen diese den <a href="https://twitter.com/OPolianichev/status/1588223801229287425" rel="noopener noreferrer">Klischee-Ukrainer</a> hingegen eher dunkelhäutig, mit braunen Haaren und Augen dar. Welche Darstellung stimmt?<br></p>
<p dir="auto">Die etwas überraschende Antwort: Beide. Es kommt auf das Bezugssystem an, die soziale Hautfarbe lässt sich nicht objektiv bestimmen. Für Russen sind Ukrainer „braun“, für Westeuropäer „weiß“.<br></p>
<p dir="auto">Wenn es nur bei diesem Widerspruch bliebe, wäre das für Ukrainer zwar unangenehm, aber kein massives Problem. „Weiße“ Latinos kennen es von Reisen nach Europa oder Nordamerika ebenfalls, ohne dass die Waffen sprechen. In der Ukraine kollidieren aber Ansprüche auf ein Territorium: Sowohl Rußland als auch die Ukraine betrachten es als ewigen, unteilbaren Teil ihres Staates.<br></p>
<p dir="auto">Beide sehen sich als der einzige legitime Nachfolger der Kjiwer Rus’, die unter anderem über das Gebiet der heutigen Ukraine und Teile Rußlands herrschte.</p>
<p dir="auto"> (Ich gehe im folgenden nur oberflächlich auf die Ansprüche ein, wer Details dazu wissen möchte, sollte auf eins der folgenden Angebote zurückgreifen:</p>
<ul dir="auto">
<li>
<p dir="auto">Andreas Kappeler: <a href="https://openlibrary.org/works/OL3662663W" rel="noopener noreferrer">Kleine Geschichte der Ukraine</a>. Erschienen im C.H.Beck Paperback. 8. Auflage, 2022.</p>
</li>
<li>
<p dir="auto">Timothy Snyder: <a href="https://online.yale.edu/courses/making-modern-ukraine" rel="noopener noreferrer">The Making of Modern Ukraine</a>. Erschienen im Herbst 2022 im Rahmen des Yale Course Broadcasts.)<br></p>
</li>
<li>
<p dir="auto">Andreas Kappeler: <a href="https://www.chbeck.de/kappeler-ungleiche-brueder/product/20530820" rel="noopener noreferrer">Ungleiche Brüder</a>. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart. C.H.Beck Paperback. 1. Auflage, 2017.<br></p>
</li>
</ul>
<p dir="auto">Beide greifen auf die Kjiwer Rus’ als Mythos zurück, der in ihnen fortlebe. Dies obwohl die Kjiwer Rus’ keineswegs als Erste auf dem Gebiet der heutigen Ukraine herrschte. Die erste nachgewiesene Besiedlung erfolgte durch die Llinearbandkeramische Kultur und die Dnjepr-Donez-Kultur bereits in der Jungsteinzeit. Goten und Griechen hinterließen ihre Spuren. Kimmerier, Skythen, Sarmaten und Chasaren errichteten ebenfalls vor der Rus’ berühmte Reiche auf dem Gebiet.</p>
<p dir="auto">Die Kjiwer Rus’ selbst entstand erst 822 und wurde von einem Wikinger begründet: Rjurik. Der eroberte wichtige Stützpunkte entlang der Handelsroute von der Ostsee zum Schwarzen Meer, um den Handel mit Byzanz zu kontrollieren. Der Legende zufolge sei er als „unabhängiger Richter“ von den Altostslawen und Finno-Ugriern ins Land gerufen worden. Das lässt sich zwar nicht vollkommen ausschließen, wahrscheinlich handelt es sich dabei aber um eine nachträgliche Legitimation. Anstatt schmählich erobert worden zu sein, hatten sie weise einen auswärtigen Herrscher gerufen. Auch Rjuriks Herrschaft stabilisierte sich, wenn sie nicht nur von Gewaltbereitschaft abhing. Die schnelle Slawisierung der ehemaligen Wikinger tat ihr Übriges, um aus der Fremdherrschaft eine als gerecht empfundene Herrschaft zu machen.<br></p>
<p dir="auto">Im Laufe des 12. Jahrhundert schwand die Kontrolle durch das Zentrum in Kjiw, die Teifürstentümer am West- und Nordrand des Reiches gewannen an Macht: Polozk und Smolensk im Nordwesten, Pskow und Nowgorod im Norden, Wladimir-Susdal im Nordosten und Galizien-Wolhynien im Westen. Schließlich zerstörten die Mongolen im 13. Jahrhundert die Rest der Staatlichkeit und das ehemalige Kerngebiet der Kjiwer Rus’ kam unter die Herrschaft der Goldenen Horde. Infolge sahen sich mehrere Reiche als Nachfolger der Rus’: Unter anderem die Königreiche Polen und Ungarn, das Großfürstentum Litauen und ein kleines, bisher unbedeutenden Fürstentum namens Moskau.<br></p>
<p dir="auto">Aus historischen Zufällen heraus sollte Moskau seine Herrschaftsansprüche im 17. Jhd. durchsetzen: Kriegsglück gegenüber die benachbarten Teilfürstentümer. Verbündeter der orthodoxen Kirche im Ringen mit Polen-Litauen, weshalb der Metropolit aus Kjiw nach Moskau zog. Der Untergang Byzanz’, in dessen Nachfolge als „Schützer der Rechtgläubigen“ sich Moskau fortan sah.<br></p>
<p dir="auto"> Damit unterscheiden sich Rußland und die Ukraine übrigens nicht von anderen Staaten: Es gibt keine „natürlichen Grenzen“ von „überzeitlichen Völkern“. Nicht einmal in Europa, trotz massiver ethnischer Säuberungen im 20. Jhd. Die Vorstellung von Nationalstaaten, wie wir sie heute kennen, kam überhaupt erst im 17. Jhd langsam auf und setzte sich erst im späten 19 Jhd. flächendeckend durch. (Im Detail: Eric Hobsbawm: <a href="https://openlibrary.org/works/OL495623W" rel="noopener noreferrer">Nationen und Nationalismus</a>. Mythos und Realität seit 1780. 3. Auflage, Campus 2005.)<br></p>
<p dir="auto">Nur um es zusammenzufassen, folgende Länder könnten – neben Rußland und der Ukraine – historische Ansprüche auf das Staatsgebiet der Ukraine konstruieren:<br></p>
<ul dir="auto">
<li>
<p dir="auto">Schweden und Dänemark (als „gothorum rex“ und Nachfolger der Wikinger)<br></p>
</li>
<li>
<p dir="auto">Griechenland (aufgrund der antiken griechischen Kolonisation am Schwarzen Meer)<br></p>
</li>
<li>
<p dir="auto">Türkei (als Nachfolger der Krimtartaren)<br></p>
</li>
<li>
<p dir="auto">Polen und Litauen (als Nachfolger des Königreichs Polen bzw. des Fürstentums Litauen)<br></p>
</li>
<li>
<p dir="auto">Mongolei (als Nachfolger der Goldenen Horde)<br></p>
</li>
<li>
<p dir="auto">Österreich, Slowakei, Rumänien, Ungarn (als Nachfolger des Habsburgerreichs)<br></p>
</li>
</ul>
<p dir="auto">Diese Ansprüche mögen absurd klingen, ließen sich aber historisch ebenso gut begründen wie jene Rußlands und der Ukraine. Es gibt keine direkte logische Verbindung zwischen der Rus’ und irgendeinem modernen Staat. Der Anspruch Rußlands und der Ukraine beruht auf Mythos: Nicht auf der Rus’ als historischem Gebilde, sondern auf der Rus’ als „ewiger“ Idee.</p>
<p dir="auto">Beide Ansprüche schließen einander aus, weshalb ein Kompromiss unmöglich ist. (Kamil Galeev nannte dies daher einen „<a href="https://twitter.com/kamilkazani/status/1526947310546354177" rel="noopener noreferrer">Krieg der Memkomplexe</a>“).<br></p>
<p dir="auto">Dieser Streit schwelt auch schon seit Jahrhunderten, im Grunde seit der russischen Eroberung des Territoriums der heutigen Ukraine im 17. Jhd. Schon Katharina die Große forderte 1764, die Ukrainer und Weißrussen müssten „russisch“ werden (nach Kappeler, S. 93+94). Im 19. Jhd. beschwerten sich Polen über die von den Habsburger Bürokraten ausgebuddelte „ukrainische Zombie-Sprache“ (Kappeler: S. 122), die nur ein „polnischer Dialekt“ (Kappeler: S. 132) sei. Ähnliche Gründe führt auch Putin in seinem Aufsatz „<a href="https://zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2021/7/revisionismus-und-drohungen/" rel="noopener noreferrer">Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern</a>“ an.<br></p>
<p dir="auto">Wie alle Mythen beschreiben die russische und ukrainische Haltung nicht, was ist, sondern, was sein sollte. Sämtliche russischen Vorwürfe gegen die Ukraine und „den Westen“ beruhen im Endeffekt darauf, dass die Ukraine sich nicht gemäß des russischen Mythos verhält. Dieses Fehlverhalten lässt sich aus russischer Sicht nur mit Verschwörungen und Fremdsteuerung erklären. Es reicht also nicht, das Gebiet militärisch zu erobern: Um den Mythos durchzusetzen, müssen alle Andersdenkenden entweder bekehrt, getötet oder vertrieben werden.</p>
<p dir="auto">Trotzdem gibt es Hoffnung: die Atommacht Frankreich betrachtete Algerien bis 1962 auch als integralen Teil seines Staates. Der algerische Aufstand wurde mit massiver Gewalt und Terror bekämpft, ähnlich dem heutigen russischen Vorgehen. Erst ein versuchter Staatsstreich französischer Generäle und die Verträge von Évian, in denen Frankreich die Unabhängigkeit Algeriens anerkannte, änderten diese Einstellung. Heute führen beide Länder normale zwischenstaatliche Beziehungen.</p>
]]><![CDATA[Die (a)politische Haltung der Tech-Elite]]>https://write.tchncs.de/~/GelehrterImLehnstuhl/Die%20(a)politische%20Haltung%20der%20Tech-Elite/2022-11-27T23:15:29.717235+00:00https://write.tchncs.de/@/Lehnstuhl-Gelehrter/2022-11-27T23:15:29.717235+00:00<![CDATA[<p dir="auto">Wenigstens seit der Bronzezeit träumt die Menschheit von einem Ort ohne Sorgen. Dies begann mit dem Paradies, versteckt in der mesopotamischen Wüste und bewacht von Engeln. Später variierten verschieden Denker die Idee, immer gemäß der vorherrschenden Ideenwelt: Platons perfekte Polis, Morus’ unentdecktes „Utopia“ und schließlich <a href="https://www.lto.de/recht/feuilleton/f/ignatius-donnelly-dichter-jurist-amerikanischer-spinner-atlantis-mythos/" rel="noopener noreferrer">Donnelly’s vorzeitliches „Atlantis“</a>. Heute gibt es auf der Erde keinen Platz mehr für eine perfekte Zuflucht, weshalb Utopisten sie auf’s Meer (Seasteading), in den Weltraum (Mars) oder den Cyberspace (Transhumanismus) verlegen.</p>
<p dir="auto">In diesen perfekten Gesellschaften braucht es keine Politik, keine Kompromisse. Jegliche Änderung kann die Lage nur verschlechtern. Es herrscht eine Gleichheit der Gleichen. Dies setzt aber eine absolute Gleichheit voraus, es darf keine Ungleichheit geben – denn die für die Gleichen perfekte Gesellschaft verwandelt sich aus Sicht der Ungleichen in eine Dystopie: eine Gesellschaft, in der ihr Leben vollkommen fremdbestimmt wird.</p>
<p dir="auto">Bei dieser Frage der Gleichheit kommt nun ein psychologischer Effekt zu tragen: die „<a href="https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2116884119" rel="noopener noreferrer">Illusion der Vielfalt</a>“. Wir nehmen unsere direkte Umwelt als extrem vielfältig wahr und überschätzen dadurch unseren Einblick in die Gesamtgesellschaft. Wir können nur die vertraute Ungleichheit erkennen, die bekannte Gleichheit und die unbekannte Ungleichheit bleiben unsichtbar.</p>
<p dir="auto">Der Anspruch der eher anarcho-syndikalistischen <a href="https://medium.com/data-driven-fiction/tech-bros-making-things-worse-by-making-the-world-a-better-place-c70bc703aa4a" rel="noopener noreferrer">Tech-Culture</a> erforderte eine <a href="https://www.thedailybeast.com/the-myth-of-silicon-valley-libertarianism" rel="noopener noreferrer">ständige Reflexion</a> des eigenen Handelns. Derartige Reflexion erfordert aber Sicherheit und Muße - etwas, von dem prekär Beschäftigte nur träumen können.</p>
<p dir="auto">Bei Mastodon kann man dies gerade live erleben: Die bisherigen Nutzer fühlten sich äußerst divers und dachten, sie hätte ein <a href="https://medium.com/silicon-valley-uncovered/why-does-tech-bro-culture-matter-bde00cfc8b8e" rel="noopener noreferrer">freundliches Umfeld</a> für marginalisierte Gruppen erschaffen. Für queere Nutzer stimmte das auch. Nun kamen aber weitere marginalisierte Gruppen hinzu und stellten andere Anforderungen, was Streit verursachte (siehe: <a href="https://write.tchncs.de/%7E/GelehrterImLehnstuhl/Mastodons%20Wachstumsschmerzen" rel="noopener noreferrer">Mastodons Wachstumsschmerzen</a>).</p>
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<p dir="auto">Die Neuankömmlinge nahmen Mastodon anders wahr: Sie sahen einen Club „<a href="https://cassolotl.medium.com/i-left-mastodon-yesterday-4c5796b0f548" rel="noopener noreferrer">nur für Tech-Bros</a>“. Für sie überwogen die Ähnlichkeiten der bisherigen Nutzer: Fast alle hatten Ingenieurwesen oder Naturwissenschaft studiert, ein hohes Einkommen und Arbeitsplatzsicherheit. Es herrschte ein an technischen Maßstäben orientierter Diskussionsstil.</p>
<p dir="auto">Die bisherigen Nutzer lebten in einer Utopie. Nun kamen Ungleiche und brachen in diese Utopie ein. Damit hörte sie auf, eine Utopie zu sein, und verwandelte sich in eine Polis. Plötzlich mussten <a href="https://halifaxsocial.ca/@inkstainedmags/109415662582436386" rel="noopener noreferrer">Umgangsformen ausgehandelt</a> werden. Die bisherige anarchistische Grundhaltung funktionierte nicht mehr. Die Gesellschaft hatte den <a href="https://www.eff.org/cyberspace-independence" rel="noopener noreferrer">unabhängigen Cyberspace</a> erobert.</p>
<p dir="auto">Auf diese Eroberung gab es zwei Reaktionen: Einmal die anarcho-kapitalistische, wie sie <a href="https://www.youtube.com/watch?v=SKY5pOcEn4U" rel="noopener noreferrer">Peter Thiel</a> und <a href="https://medium.com/quite-frankly-with-sagar-vellalath/elon-musk-is-not-a-genius-he-just-made-you-think-he-is-97953ecfc1ff" rel="noopener noreferrer">Elon Musk</a> verkörpern. Sie versuchen, der <a href="https://nymag.com/intelligencer/2017/04/the-techno-libertarians-praying-for-dystopia.html" rel="noopener noreferrer">kommenden Katastrophe</a> durch eine Flucht in ein selbstgeschaffenes Utopia zu entgehen. Ihr Bestreben ist auf die <a href="https://www.theguardian.com/news/2022/sep/04/super-rich-prepper-bunkers-apocalypse-survival-richest-rushkoff" rel="noopener noreferrer">Erschaffung dieser Arche</a> gerichtet: Deshalb baut Musk Raketen, deshalb will er den <a href="https://aninjusticemag.com/sorry-elon-musk-colonizing-mars-could-never-save-humanity-d2858cc486b9" rel="noopener noreferrer">Mars besiedeln</a>. Deshalb investiert Peter Thiel in die Verschmelzung von Mensch und Maschine, deshalb will er autarke Seasteads errichten. Die Katastrophe lässt sich ihrer Meinung nach nicht abwenden. Diese prä-apokalyptische Haltung öffnet autoritären Bewegungen ein Tor.</p>
<p dir="auto">Eine vollkommen andere Reaktion sieht man beispielhaft in <a href="https://words.democracy.earth/hacking-ideology-pol-is-and-vtaiwan-570d36442ee5" rel="noopener noreferrer">Taiwan</a>. Die Wertvorstellungen der dortigen Tech-Szene ähneln jener im Silicon Valley. Sie verstehen die Macher-Attitüde aber als Aufruf, sich in die Gesellschaft einzubringen und sie aktiv zu verbessern. Aber auch im Westen gibt es ähnliche Ansätze, etwa den Blog Netzpolitik oder „D64 – das Zentrum für digitalen Fortschritt“. Diese Richtung bringt sich stärker in demokratische Prozesse ein.</p>
<p dir="auto">Die Tech-Szene steht nicht alleine vor dieser Entscheidung. Nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen müssen ihre Prioritäten neu sortieren und ihre Rolle neu bestimmen. Aber die Tech-Szene kann sich ihnen auch nicht länger entziehen: Ihr Utopia lag die ganze Zeit im Nirgendwo.</p>
]]><![CDATA[Mastodons Wachstumsschmerzen]]>https://write.tchncs.de/~/GelehrterImLehnstuhl/Mastodons%20Wachstumsschmerzen/2022-11-26T17:46:59.355840+00:00https://write.tchncs.de/@/Lehnstuhl-Gelehrter/2022-11-26T17:46:59.355840+00:00<![CDATA[<p dir="auto">Bei <a href="https://write.tchncs.de/tag/Twitter" title="Twitter" rel="noopener noreferrer">#Twitter</a> <a href="https://www.npr.org/2022/11/21/1138064606/elon-musk-twitter-investors-fans" rel="noopener noreferrer">ändert sich vieles</a>, weshalb einige Gruppen sich Alternativen suchen. Eine <a href="https://netzpolitik.org/2022/twitter-exodus-wie-behoerden-medien-und-ngos-mastodon-fuer-sich-entdecken/" rel="noopener noreferrer">wichtige Alternative</a>: Mastodon bzw. das <a href="https://write.tchncs.de/tag/Fediverse" title="Fediverse" rel="noopener noreferrer">#Fediverse</a> (zu dem auch dieser Blog gehört).</p>
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<p dir="auto">Twitter und Mastodon ähneln sich, sowohl in der Funktion (Mikroblogging) als auch im Aussehen. Daher scheint ein Umstieg einfach: Profil umziehen, weitermachen wie bisher.</p>
<p dir="auto">Sobald man hinter die Oberfläche guckt, bemerkt man aber große Unterschiede.</p>
<p dir="auto">Zum einen beruht Mastodon auf einer vollkommen anderen Technik. Anstatt einer zentralen Instanz gibt es hunderte miteinander vernetzter Instanzen. Das bietet Vorteile, etwa, weil man das Rauschen einfacher ausblenden kann. Kleine Gruppen können Zufluchten erschaffen, in denen sie sich ungezwungen ausleben. Viele Diskussionen können in der lokalen Chronik erfolgen, ohne dass man den Leuten folgt. Gleichzeitig birgt es die Gefahr der Gettoisierung: Dort fühlen sich marginalisierte Gruppen zwar sicher, aber auch <a href="https://www.dailydot.com/debug/mastodon-fediverse-eugen-rochko/" rel="noopener noreferrer">ausgeschlossen</a>.</p>
<p dir="auto">Diese technischen Probleme ließen sich durch Anpassungen an Protokoll oder Design lösen. Es gab diese Probleme bei allen sozialen Netzwerken und alle lösten sie auf die eine oder andere Weise.</p>
<p dir="auto">Es gibt aber ein viel größeres Problem beim Umstieg von Twitter auf Mastodon: das soziale Umfeld. Twitter richtete sich an <a href="https://www.pewresearch.org/internet/2019/04/24/sizing-up-twitter-users/" rel="noopener noreferrer">alle Nutzer</a>, man musste nicht sonderlich technikaffin sein. Sicher, das half, um es wirtschaftlich erfolgreich zu benutzen. Man konnte aber auch ohne dieses technische Wissen tollen Gruppen finden und sich mit Menschen vernetzen, die man sonst nie getroffen hätte. Gerade Wissenschaftler und Aktivisten nutzten Twitter auf diese Weise. Zur Streitschlichtung baute man auf eine externe Instanz, die Moderation durch den Plattformbetreiber und ggf. Strafverfolgung. <br></p>
<p dir="auto">Mastodon hingegen richtete sich an <a href="https://zirk.us/@shengokai/109380372543079977" rel="noopener noreferrer">technikaffine Nutzer</a> mit einer starken „Selbst ist der Mann“-Attitüde. Wie bei der Kolonisierung Nordamerikas galt: Wenn es einem auf einer Instanz nicht gefällt, gründet man halt seine eigene und bevölkerte sie mit Gleichgesinnten. Sprich: Leute, die nicht miteinander klarkamen, gingen sich weiträumig aus dem Weg. Solange <a href="https://techpolicy.press/the-whiteness-of-mastodon/" rel="noopener noreferrer">alle Benutzer</a> diese Attitüde und ausreichende Geld und technisches Wissen besaßen, funktionierte das recht problemlos. Dieses „aus dem Weg gehen“ bildete die zentrale Spielregel, weshalb z.B. umstrittene Themen als „<a href="https://www.kuwi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/ehemalige_professoren/sw2/forschung/tabu/weterfuehrende_informationen/artikel_zur_tabuforschung/tabu_artikel_1997.pdf" rel="noopener noreferrer">Tabu</a>“ stets hinter Inhaltswarnungen versteckt wurden. Zur Streitschlichtung dient sozialer Druck bis hin zur „<a href="https://www.cjr.org/analysis/journalists-want-to-recreate-twitter-on-mastodon-mastodon-is-not-into-it.php" rel="noopener noreferrer">Exkommunikation</a>“ der betroffenen Instanz.</p>
<p dir="auto">Diese verschiedenen Umgangsformen kollidierten nun miteinander. Die bisherigen Benutzer von Mastodon wollten ihre bewährte Praktik beibehalten. Sie sahen gar nicht ein, sich wegen der Neuankömmlinge umzustellen: Bisher funktionierte doch alles und neue Nutzer mussten sich halt assimilieren.</p>
<p dir="auto">Solange immer nur kleine Gruppen und Einzelpersonen dazukamen, klappte das auch. Nun gelangte infolge des Twitter-Exodus aber eine große Gruppe von Nutzern auf die Plattform, die andere Ansprüche hatten. Die <a href="https://direkteaktion.org/skizze-eines-konstruktiven-sozialismus-teil-3/#ausschluss-durch-einschluss-das-epistemische-versagen-des-horizontalismus" rel="noopener noreferrer">Größe dieser Gruppe</a> machte eine vollständige Assimilation unmöglich: Die Umgangsformen mussten neu ausgehandelt werden. Da niemand diese Verhandlung bewusst führte, kam es zu Streit mit gegenseitigen Schuldvorwürfen.</p>
<p dir="auto">Internet-Archäologen sehen vermutlich Ähnlichkeiten zum „<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Eternal_September" rel="noopener noreferrer">Ewigen September</a>“ des Usenets. Der Unterschied: Das Usenet funktionierte ohne die sozialen Funktionen auch technisch nicht, weshalb es von Foren und Web 2.0 ersetzt wurde. Das Fediverse käme grundsätzlich auch mit anderen sozialen Umgangsformen klar, der Streit führt also nicht zwingend zu seinem Untergang.</p>
<p dir="auto">Ähnliche Probleme gibt es aber auch außerhalb des Internets. Er kommt immer auf, wenn bewährte soziale Umgangsformen aufgrund geänderter Rahmenbedingungen nicht mehr funktionieren. Die Alteingesessenen tendieren dazu, das Problem nach dem <a href="https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/fluechtlingsheim-in-hamburgs-reichster-gegend-anwohner-protestieren-a-967796.html" rel="noopener noreferrer">Sankt-Florian-Prinzip</a> zu verschieben, die Neuankömmlinge fordern lautstark Änderungen ohne Rücksicht auf bisherige Gepflogenheiten. Dazu kommen Trittbrettfahrer, die den Zwist für eigene Ziele nutzen wollen.</p>
<p dir="auto">Trotz aller Behauptungen, das Internet sei etwas vollkommen neues: In Wirklichkeit handelt es sich bloß um ein Medium für soziale Interaktionen. Entsprechend lassen sich viele Probleme nicht technisch lösen, sondern nur <a href="https://kolektiva.social/@TheBird/109408117564247168" rel="noopener noreferrer">aushandeln</a> und kanalisieren. Das bietet aber auch Vorteile: Wir können auf Erfahrungen aus fünftausend Jahren Menschheitsgeschichte zurückgreifen, um den Umgang mit diesem <a href="https://write.tchncs.de/tag/Neuland" title="Neuland" rel="noopener noreferrer">#Neuland</a> zu erlernen.</p>
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