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Mastodons Wachstumsschmerzen

oder gesellschaftliche Disruption

Bei #Twitter  ändert sich vieles, weshalb einige Gruppen sich Alternativen suchen. Eine wichtige Alternative: Mastodon bzw. das #Fediverse (zu dem auch dieser Blog gehört).


Twitter und Mastodon ähneln sich, sowohl in der Funktion (Mikroblogging) als auch im Aussehen. Daher scheint ein Umstieg einfach: Profil umziehen, weitermachen wie bisher.

Sobald man hinter die Oberfläche guckt, bemerkt man aber große Unterschiede.

Zum einen beruht Mastodon auf einer vollkommen anderen Technik. Anstatt einer zentralen Instanz gibt es hunderte miteinander vernetzter Instanzen. Das bietet Vorteile, etwa, weil man das Rauschen einfacher ausblenden kann. Kleine Gruppen können Zufluchten erschaffen, in denen sie sich ungezwungen ausleben. Viele Diskussionen können in der lokalen Chronik erfolgen, ohne dass man den Leuten folgt. Gleichzeitig birgt es die Gefahr der Gettoisierung: Dort fühlen sich marginalisierte Gruppen zwar sicher, aber auch ausgeschlossen.

Diese technischen Probleme ließen sich durch Anpassungen an Protokoll oder Design lösen. Es gab diese Probleme bei allen sozialen Netzwerken und alle lösten sie auf die eine oder andere Weise.

Es gibt aber ein viel größeres Problem beim Umstieg von Twitter auf Mastodon: das soziale Umfeld. Twitter richtete sich an alle Nutzer, man musste nicht sonderlich technikaffin sein. Sicher, das half, um es wirtschaftlich erfolgreich zu benutzen. Man konnte aber auch ohne dieses technische Wissen tollen Gruppen finden und sich mit Menschen vernetzen, die man sonst nie getroffen hätte. Gerade Wissenschaftler und Aktivisten nutzten Twitter auf diese Weise. Zur Streitschlichtung baute man auf eine externe Instanz, die Moderation durch den Plattformbetreiber und ggf. Strafverfolgung.

Mastodon hingegen richtete sich an technikaffine Nutzer mit einer starken „Selbst ist der Mann“-Attitüde. Wie bei der Kolonisierung Nordamerikas galt: Wenn es einem auf einer Instanz nicht gefällt, gründet man halt seine eigene und bevölkerte sie mit Gleichgesinnten.  Sprich: Leute, die nicht miteinander klarkamen, gingen sich weiträumig aus dem Weg. Solange alle Benutzer diese Attitüde und ausreichende Geld und technisches Wissen besaßen, funktionierte das recht problemlos. Dieses „aus dem Weg gehen“ bildete die zentrale Spielregel, weshalb z.B. umstrittene Themen als „Tabu“ stets hinter Inhaltswarnungen versteckt wurden. Zur Streitschlichtung dient sozialer Druck bis hin zur „Exkommunikation“ der betroffenen Instanz.

Diese verschiedenen Umgangsformen kollidierten nun miteinander. Die bisherigen Benutzer von Mastodon wollten ihre bewährte Praktik beibehalten. Sie sahen gar nicht ein, sich wegen der Neuankömmlinge umzustellen: Bisher funktionierte doch alles und neue Nutzer mussten sich halt assimilieren.

Solange immer nur kleine Gruppen und Einzelpersonen dazukamen, klappte das auch. Nun gelangte infolge des Twitter-Exodus aber eine große Gruppe von Nutzern auf die Plattform, die andere Ansprüche hatten. Die Größe dieser Gruppe machte eine vollständige Assimilation unmöglich: Die Umgangsformen mussten neu ausgehandelt werden. Da niemand diese Verhandlung bewusst führte, kam es zu Streit mit gegenseitigen Schuldvorwürfen.

Internet-Archäologen sehen vermutlich Ähnlichkeiten zum „Ewigen September“ des Usenets. Der Unterschied: Das Usenet funktionierte ohne die sozialen Funktionen auch technisch nicht, weshalb es von Foren und Web 2.0 ersetzt wurde. Das Fediverse käme grundsätzlich auch mit anderen sozialen Umgangsformen klar, der Streit führt also nicht zwingend zu seinem Untergang.

Ähnliche Probleme gibt es aber auch außerhalb des Internets. Er kommt immer auf, wenn bewährte soziale Umgangsformen aufgrund geänderter Rahmenbedingungen nicht mehr funktionieren. Die Alteingesessenen tendieren dazu, das Problem nach dem Sankt-Florian-Prinzip zu verschieben, die Neuankömmlinge fordern lautstark Änderungen ohne Rücksicht auf bisherige Gepflogenheiten. Dazu kommen Trittbrettfahrer, die den Zwist für eigene Ziele nutzen wollen.

Trotz aller Behauptungen, das Internet sei etwas vollkommen neues: In Wirklichkeit handelt es sich bloß um ein Medium für soziale Interaktionen. Entsprechend lassen sich viele Probleme nicht technisch lösen, sondern nur aushandeln und kanalisieren. Das bietet aber auch Vorteile: Wir können auf Erfahrungen aus fünftausend Jahren Menschheitsgeschichte zurückgreifen, um den Umgang mit diesem #Neuland zu erlernen.