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Der Verlust des Zufalls

Was der Komponist, Musiker und Produzent Jens Fischer aus der Corona-Krise lernt

Der Komponist, Gitarrist und Musikproduzent Jens Fischer lebt und arbeitet am Nordrand des schleswig-holsteinischen Kreises Plön, auf dem Dorf, nur ein paar Kilometer entfernt von der Ostsee, mitten in der ländlichen Provinz. In seinem Studio komponiert er Filmmusiken und Musik für eigene, freie Projekte. Während das eine auch während der Corona-Pandemie passabel läuft, gibt es Auftritte seit einem Jahr nicht mehr. Das trifft Jens Fischer. Nicht nur wegen entgangener Umsätze, sondern auch in seinem Selbstempfinden als Künstler. Doch die Pandemie gibt ihm auch etwas, nämlich Erkenntnisse über das eigene Menschsein und seine Identität als Künstler.

„ES GIBT NOCH ANDERE PERSPEKTIVEN
AUSSER DER EGOISTISCHEN“

„Wir leben in einer Kultur, die süchtig ist nach individueller Freiheit und in der das ‚ich kann tun, was ich will‛ an erster Stelle steht“, denkt Jens Fischer, „über die Straße gegangen bin immer dann, wenn kein Auto kam und nicht, wenn die Ampel grün war – so habe ich immer gelebt“. Doch mit der Corona-Pandemie kam die Maskenpflicht. Sollte er sich der einfach unterwerfen?

„Diese Pflicht hat mir klar gemacht, dass ich nicht vorrangig mich selbst mit der Maske schütze, sondern andere“, sagt Jens Fischer. Die Maske sei für ihn damit zu einem Symbol dafür geworden, was jeder einzelne mit einfachen Mitteln für andere tun könne. Und das, offenbart er, bringe ihm vor allem eine Erkenntnis: „Es gibt noch andere Perspektiven außer der egoistischen“.

„ICH HABE IMMER
MEIN EIGENES MUSIKALISCHES ZEUG IM KOPF GEHABT“

Seit den 1980er Jahren ist Jens Fischer als Gitarrist mit verschiedenen Bands von Bühne zu Bühne getingelt. Gewohnt hat er seinerzeit in der Metropole Hamburg mit ihrer regen Musikszene. Und er konnte davon leben. Schon während dieser frühen Jahre als Musiker habe er stets „sein eigenes musikalisches Zeug“ im Kopf gehabt, sagt Jens Fischer. Anfang der 1990er-Jahre war er die endlosen Stunden im Tourbus leid, wenn er mit den Bands von Gig zu Gig fuhr. „Vertane Zeit“, findet er.

Also machte er Schluss mit den Live-Auftritten und fing an, für CDs mit eigener Instrumentalmusik und Filme zu komponieren. „Ich schuf nun Musik, die auf Tonträgern statt auf der Bühne landete“, beschreibt er den Bruch, der mit diesem Wechsel im Berufsfeld einherging. Doch das war nicht die einzige Veränderung: Jens Fischer, der es gewohnt war, vor applaudierenden Menschen zu spielen, arbeitete nun allein im Studio. „Keine Bühne, kein Publikum, kein unmittelbares Feedback – das war anfangs schon merkwürdig.“

Entscheidend für seinen Rückzug von der Bühne sei aber etwas anderes gewesen: „In den 1980er-Jahren war ich als professioneller Gitarrist mit Künstlern unterwegs und spielte deren Repertoire, nicht meines“, sagt er. „Ich wollte aber lieber meine eigenen musikalischen Kompositionen realisieren, das heißt, im eigenen Studio aufnehmen, und nicht als Musiker nur die Songs anderer interpretieren und begleiten“. Weil er nun konsequent seine eigenen Ideen in Musik umsetzte, sei die berufliche Veränderung „unheimlich faszinierend“ für ihn gewesen. Denn, findet Fischer: „Die Komposition von Filmmusik bietet sehr viel künstlerische Freiheit“.

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Überdies seien die 1990er-Jahre das Jahrzehnt gewesen, in dem es technisch erst möglich wurde, ein Studio „in den eigenen vier Wänden“ zu haben. Und nachdem er in Hamburg zehn Jahre lang Musik für etliche bekannte Vorabendserien und „so ziemlich alles, was er vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen kriegen konnte“ komponiert hatte, wurde es für Jens Fischer Zeit, der Großstadt den Rücken zu kehren. „Ich wollte aufs Land, weil ich es dort einfach schön finde und man in der Stadt keinen Himmel sieht“, offenbart Fischer. Seinen Sehnsuchtsort fand er im Jahr 2000 auf dem Dorf in der küstennahen Pampa des Kreises Plön. Hier hat er noch vier weitere Jahre für TV-Serien gearbeitet, bevor er seine Gitarre wiederentdeckte und die Lust an anderen musikalischen Projekten wuchs.

Mit einem Besuch des Mediendoms der Fachhochschule in Kiel erschloss sich ihm dann eine ganz neue mediale Welt: jene der Kuppelprojektionen, der sogenannten immersiven Medien. Für Jens Fischer war klar: „Dort musste ich spielen.“

Um sich diesen Wunsch zu erfüllen, reichten ihm ein paar Gespräche mit der Leitung des Mediendoms. „Ich bekam die Chance, mein Solokonzert ‚Metavista‛ für Gitarre und Loopsampler im Mediendom zu visualisieren und dort am Ende acht Jahre lang als Live-Programm ‚Metavista – eine Klang(t)raumreise‛ zu spielen“, freut sich Jens Fischer. Es folgten Auftragsproduktionen für Filmmusik in Planetarien deutschlandweit.

Sein Haupteinkommen erzielt Jens Fischer indes nach wie vor aus Musikproduktionen zu TV-Filmen. „Ich bekomme den fertigen Film, bespreche mich mit der Regisseurin oder dem Regisseur und verschwinde ins Studio“, fasst er kurz seinen Job zusammen, an dessen Ende das Produkt steht: ein durchgängiger Soundtrack in Filmlänge.

Eine gute Filmmusik könne den Szenen „eine weitere Perspektive geben, die Zuschauenden in eine Richtung weisen, ihnen etwas vermitteln oder erklären, was sich beispielsweise aus einem bloßen Dialog gar nicht vollständig ergibt“, beschreibt Fischer die Funktion einer Filmmusik. „Wenn sich die Musik nicht in den Vordergrund drängt, hat der Komponist einen guten Job gemacht“, sagt er. Umgekehrt sei eine schlechte Filmmusik „wie saure Milch im Kaffee: Du kannst den ganzen Becher bloß noch wegschütten“.

„DER BERUF KOMPONIST
HAT SEHR UNTERSCHIEDLICHE AUSPRÄGUNGEN“

Das auf „Metavista“ folgende Projekt „miRatio“, bei dem sechs Musiker virtuelle, in die Kuppel projizierte Räume bespielen und Jens Fischer im Zentrum des Mediendoms live auf der Gitarre dazu musiziert, wäre noch immer im Kieler Mediendom zu sehen und zu hören, wenn die Corona-Pandemie seine Auftritte nicht verhinderte. Und noch zwei Projekte, die Fischer im Ensemble mit weiteren Künstlern nach Auftritten vor Ausbruch der Pandemie auch jetzt noch auf die Bühne bringen möchte, liegen wegen Corona auf Eis: zum einen der poetisch-musikalische Theaterabend „Durchwachte Nacht“ mit Texten von Rūmī und Else Lasker-Schüler, zum anderen „Travelling Light“, ein Programm, mit dem Fischer und sein Ensemble die literarische Seite des kanadischen Lyrikers und Sängers Leonard Cohen musikalisch ausleuchten.

„Zum Glück bin ich finanziell nicht von diesen freien Projekten abhängig“, sagt Jens Fischer. Denn sein Geld verdiene er nach wie vor hauptsächlich mit Auftragskompositionen für die Medien. Seine zweite Seite, nämlich die des Live-Musikers, spiegele aber den Facettenreichtum des Berufs Komponist/-in wider: „Zwar kenne ich viele Film- und Fernseh-Komponisten, die sehr gut von ihrer Arbeit leben können – auch einige Komponistinnen“, sagt Jens Fischer. „Aber Komponistinnen und Komponisten etwa für Konzertmusik, insbesondere im Bereich der sogenannten ‚ernsten oder E-Musik‛, haben es oftmals schwerer, nur von ihren Kompositionen zu leben“. Um ihr Einkommen zu ergänzen, unterrichteten sie deshalb oft zusätzlich an Musikschulen oder Musikhochschulen, weiß Fischer.

Ähnliches gelte für viele Kolleg(inn)en aus der Unterhaltungsmusik, die in Bands auftreten und nicht immer von ihren eigenen Kompositionen leben können. So komme es auch, dass Komponist(inn)en häufig wahre Multitalente seien: „Wir müssen zwischen Komponieren oder Song-Writing, im-Studio-Produzieren und den Live-Auftritten als Musikerin oder Musiker unterscheiden - das sind drei eigentlich unterschiedliche Berufe, die sich jedoch oft in einer Person vereinen.“

„DIE RESONANZ AUF KÜNSTLERISCHES TUN
IST EXISTENZIELL“

Nach dem Umzug aufs Land hat Jens Fischer als Musiker sein erstes Soloprogramm vor Publikum im Jahr 2005 gespielt. „Das war ein Hauskonzert im Garten, vor vielleicht 20 Leuten“, erinnert er sich schmunzelnd. Und ungemein wichtig für ihn.

Mit dem Wegfall der Liveauftritte gehe Musikerinnen und Musikern in der Pandemie etwas geradezu Existenzielles verloren: „Die Resonanz auf ihr künstlerisches Tun.“ Das könne der Applaus sein oder auch ein stiller Blick des Gegenübers, mit dem er dem Künstler kundtue, ihn und sein Tun zu verstehen. „Wenn wir für einen Auftritt üben, spielen wir Stunde um Stunde im stillen Kämmerlein, stellen uns dabei den Moment auf der Bühne vor und sehnen uns nach der Resonanz unseres Publikums“, beschreibt Jens Fischer die einsamen Probenstunden eines Solomusikers. „Aber wenn sich dieser Moment nicht verwirklicht, wenn es keine Bühne gibt und die Konzerte nicht stattfinden, wird es zäh – du verlernst es“.

Diesen Effekt beobachte er nicht nur bei Kolleg(inn)en, sondern auch an sich selbst, gesteht Jens Fischer. „Wenn ein Projekt ein Jahr oder länger gestoppt ist, fällt es mit sehr schwer, damit wieder auf die Bühne zu gehen.“ Die vielleicht schlimmste Folge des verordneten musikalischen Schweigens sei deshalb die „Entfremdung von mir selbst als Musiker und von meinem Werk, obwohl ich es vor einem Jahr noch aufregend fand“.

Das Spielen vor Publikum ist aber längst nicht alles, was Jens Fischer im Kulturlockdown fehle: Mindestens genauso fatal für ihn und die Kunst insgesamt sei das Abhandenkommen des Zufalls.

„DAS PRINZIP ZUFALL
IST IMPULSGEBER FÜR KREATIVITÄT“

„Der Zufall ist für Kreative ein unglaublich wichtiger Faktor“, glaubt Jens Fischer. Nämlich als „Impulsgeber für künstlerisches Tun“. „Stelle dir vor, du hörst zufällig von einer Veranstaltung, die gleich um die Ecke stattfindet, in einer Stunde, nur fünf Minuten entfernt“, stellt er ein Gedankenexperiment an. „Du gehst hin und triffst rein zufällig einen Menschen, der dir wichtige Anregungen gibt, dich inspiriert, dich ausstellen möchte oder dir einen Auftritt verschafft – ganz gleich, was – aber mit Corona geht das alles nicht.“ Corona sei, meint Fischer, „für das Prinzip Zufall eine Riesenbremse.“ Denn „per Zoom-Konferenz statt bei Wein und Smalltalk Gedanken auszutauschen, einen schöpferischen Stups zu bekommen und dadurch künstlerische Ideen zu produzieren“, sei unmöglich. Der im Zufall liegende „Ideenfluss“ aber sei nun einmal „Voraussetzung für Kreativität und ein Grunderfordernis unseres Berufs“, sagt Jens Fischer nachdrücklich und der Verlust des Zufalls mache ihn besorgt und traurig. Aber: „Der Sommer liegt vor uns und ich habe die Hoffnung, dass Zufall wieder stattfinden darf.“

Doch selbst wenn: Dass die von Corona angerichteten Schäden an Kunst und Kultur schnell zu beseitigen sein werden, glaubt Jens Fischer kaum. Diese Einschätzung lässt ihn seine Tätigkeit als Mitglied der Fachgruppenleitung der Deutschen Filmkomponistenunion (DEFKOM) im Deutschen Komponistenverband (DKV) umso ernster nehmen: „Wir brauchen eine starke Lobby, die sich um uns und um die Belange der Künstler kümmert“, fordert er.

Informationen online: Jens Fischers Website