Ich komm mit dem Rad, Harz

Mit dem Gravelbike ein paar mehr Kilometer am Stück in den Harz | April 2023

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“Das hier, dies hier und das da muss auch noch mit in den Urlaub.”

Es wird mehr und mehr Kram, der Platz im Auto schwindet, langsam, aber sicher. Für dein Rad wird es eng, das fällt wieder hinten runter. Du musst dem zuvor kommen.

“Wisst ihr was, dann fahre ich eben die 350 km mit dem Rad in den Harz.”

Erleichterung in den Augen deiner Familie, prompt werden weitere Dinge ins Auto gestapelt. Enttäuschend, wirklich.

Es geht auf Mitternacht zu, deine Familien schläft bereits tief und fest. Mach dich mal startklar, ran ans Gravelbike. Was muss noch mit? Wenig. Die 350 km aus dem Herzen Schleswig-Holsteins in den Harz fährst du in einem Rutsch runter. Aber die Tour geht durch die Nacht, und es soll regnen, und außerdem Temperaturen von 4° bis 16°. Kälte, Regen, Wind, also ein Klamotten-All-In.

Ach, denk an die neuen UV-Armlinge, die wolltest du mal bei mäßiger Kälte ausprobieren. Zusammen mit Baselayer, Langarmtrikot und Windweste spenden die bestimmt ausreichend Wärme, so deine Theorie. Wenn es ganz unangenehm wird, hast du noch deine Regenjacke.

Antrieb surrt, Reifendruck stimmt, der dicke Batzen Haferriegel ist in den Tiefen deiner Trikottaschen verstaut. Vor Abfahrt wolltest du noch schnell ein Tröt auf Mastodon absetzen, mit Foto. Es ist ziemlich dunkel, die Fotos werden nichts. Rotes Rücklicht strahlt Hinterrad an, nicht das pfiffigste Motiv, muss langen.

Alles ist fest gezurrt, es kann los gehen, ab dafür.

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Der erste Kilometer zieht dahin. Es stellt sich sofort das bekannte Ab-Jetzt-Nur-Noch-Du-Und-Dein-Rad-Gefühl bei dir ein. Du magst das Gefühl, alles andere ist wie weggeblasen, großartig.

Und ein weiterer Kilometer zieht dahin. Es ist zwar recht frisch, aber es geht ohne Wind- oder Regenjacke drüber. UV-Armlinge mit Mehrfachnutzen, die Dinger sind gut, die nimmst du ab jetzt häufiger mit, fetzig.

Gegen Mitternacht, in Neumünster brennt noch Licht, so einiges. Die Straßen sind bevölkert von Feierlaunigen, an der einen oder anderen Kreuzung gibt es gratis aufheulende Motoren und Musikbeschallung per Bassrolle. Wenn die GEMA das wüsste, potentielle Einnahmequelle.

Es nähert sich von hinten ein Auto, sehr wahrscheinlich mit modifiziertem Endtopf, oder gar kein Topf. Lauter Krach in 3-2-1…WhasssUppp! Du zuckst richtig fies zusammen und krallst dich in deinen Lenker. Wurdest du grad fast vom Rad geschrien? Die haben echt das Beifahrerfenster runter gefahren und rausgebrüllt, tief inbrünstig. Das ist schon wieder so dumm, dein Argwohn will sich nicht so recht manifestieren. Ist auch besser so, langes Radfahren macht den Kopf frei, Argwohn kannst du jetzt nicht gebrauchen. Sammel dich kurz, dann weiter.

Tiefe Nacht, Neumünster liegt hinter dir. Die Lichter werden weniger, bald nur noch finstere Landstraße und ein paar Schotterwege. In der Ferne dahin gleitende Autoscheinwerfer, am Straßenrand eine flackernde Laterne.

Da, da war doch ein Tropfen, geht es schon los? Sollte ja regnen, war angesagt. Auf den Klassiker lässt du dich jetzt aber nicht ein, die Regensachen werden gleich angezogen, du zögerst das nicht wieder hinaus bis es zu spät ist, diesmal nicht. Stop an einer Laterne, Regensachen auspacken, umziehen. Kurze Zeit später, du streifst die Kapuze der Regenjacke über den Helm, der Nieselregen setzt ein, gute Entscheidung.

Es nieselt vor sich hin, du pedalierst vor dich hin. Kurz hinter Kaltenkirchen setzt ein leichter Gegenwind ein, mal gucken, Wind war auch angesagt.

Ein paar Kilometer weiter passierst du das Ortsschild Henstedt-Ulzburg, der Hamburger Speckgürtel ist groß, jetzt wird es urban. Zum Glück ist es spät, der Verkehr schläft um diese Uhrzeit, hoffentlich. Noch eine kurze Pause an einer Tankstelle, Wasser auffüllen, eine Cola geht auch.

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Vierspurige Straßen durchziehen den gesamten Norden Hamburgs, wie erwartet annähernd leer. Hier und da donnert mal ein Taxi oder Autoposer über die Kreuzungen. Die rechte Spur der Fahrbahn, das Mittel deiner Wahl, Kette rechts. Beladen mit einem 30er-Schnitt durch die Großstadt, hat was.

Von hinten nähert sich wieder ein röhrendes Auto. Lauter Krach in 3-2-1…WuÄhhhh! Wieder richtig fieses Zusammenzucken. TikTok hast du nicht, das muss aber der neuste Trend da sein. Beifahrerfenster runter und Radfahrer vom Rad brüllen? Der Trend mit dem Eiskübel war angenehmer.

Du näherst dich St. Pauli und den Landungsbrücken, die Straßen werden voller. Hier wird gefeiert, hier ist was los, aber so richtig, der Verkehr steigt. Nicht nur Autos, auch Fußgänger, vor allem betrunken. Du musst aufpassen, die laufen kreuz und quer.

Die Landungsbrücken, ein Schild mit der Aufschrift Hafenrundfahrt liegt im dämmrigen Lichtschein des Hafens. Du brauchst keine Rundfahrt, du willst hier nur straight durch. Wo ist denn hier der St. Pauli Elbtunnel, der mit dem Aufzug? Im Augenwinkel verschwindet ein Radfahrer in einem unscheinbaren Seitengebäude. Das muss es sein, hin da. Tatsächlich ein Aufzug. Der Radfahrer wartet auch schon vor der Aufzugstür. Jetzt nur noch dein Rad hier über den Betrunkenen im Schlafsack heben. Hui, der schnarcht aber laut. Muss am offenen Mund und den zahlreich abwesenden Zähnen liegen.

Im Aufzug stinkt es nach Urin, toll. Die Fahrt durch den St. Pauli Elbtunnel ist schön, aber viel zu schnell vorbei. Du stehst vor einem weiteren Aufzug, der Rufknopf ist schmierig, will aber gedrückt werden. Die Aufzugstür öffnet sich, diesmal Urin und Bier, keine Verbesserung.

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So, wieder an der frischen Luft, rauf mit dir auf das Rad und weiter. Ein Gruppe angetrunkene Jugendliche kreuzen da vorne gleich deinen Weg, schnell dran vorbei, das riecht nach Ärger.

“Ey, gip miä deijn Fahrrad!” - Einerseits könntest du der eloquenten Aufforderung jetzt mit einem hilfreichen Hinweis entgegnen und freundlich darauf aufmerksam machen, dass er sich dein Fahrrad morgen früh bei seiner Mutter abholen kann. Anderseits ist das nicht dein Niveau und auf eine Glasflasche am Helm kannst du auch verzichten. Schweigend dran vorbei und weiter, schnell.

Das südliche Hafen-Delta Hamburgs ist in der Dunkelheit mit Niesel sehr unübersichtlich, du bist verwirrt, so viele Brücken. Jetzt noch eine Baustelle mit unzähligen Schildern, wo gehts denn hier lang? Du hast dich eben schon aus Versehen in eine dunkle Sackgasse manövriert, direkt unter eine Brücke mit dubiosen Gestalten, bitte nicht nochmal. Die drei gedanklichen Kreuze beim Verlassen Hamburgs sind dir sowas von sicher, wirklich.

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Der Niesel wandelt sich in starken Regen, hoffentlich nicht lange, ist noch ein bisschen zu fahren. Pack mal lieber die Kapuze der Regenjacke unter den Helm, der Regen ist zu stark. Über dem Helm ist die Kapuze zu kurz, die Suppe läuft dir so vorne rein. Der Umbau offenbart dir eine Schwachstelle, der Kapuzenschirm ist unter dem Helm zu instabil, der Fahrtwind drückt dir nun den Schirm ins Gesicht, nervig.

Der Regen lässt etwas nach, du rollst beständig durch das Flachland. Kleine Dörfer mit grünen Ortsschildern ziehen zahlreich an deinen müden Augen vorbei. Namen? Kannst du dir nicht mehr merken. Da, eine Zappelhalle oder Kneipe, da brennt noch ausgiebig Licht, aber es ist ruhig. Du liest “Emmas Ballonladen”, glaubst du. Ein ganzer Laden voller Luftballons, muss wohl lukrativ sein dieses Ballongeschäft.

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Das Ortsschild Hanstedt zieht an dir vorbei, die nächste geschlossene Tankstelle mit Überdachung tut sich in deinem Scheinwerferlicht auf. Gute Gelegenheit bei dem Regen, kurzer Stop, schnell nachschmieren. Nicht die Kette, die ist gewachst.

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Die nächtliche Schwärze weicht langsam, es ist zugezogenen und grau am Himmel. Deine Augen werden immer träger, alles andere läuft im Autopilot, ohne irgendwelche Ermüdungen. Ah, der Schlafmangel ist es also, die erste Herausforderung, du brauchst Kaffee. Wie spät ist es? 6:30 Uhr. Wo bist du? Kein Plan. Ein Bäcker? Siehst du nicht. Eine Tankstelle? Nur SB, ohne Shop.

Du bist in Wietzendorf, am Horizont tauchen gelb-rote Flaggen auf, ein Netto, Sonntags natürlich zu, aber die Chance auf ein Bäcker besteht. Licht, es brennt Licht im Bäcker, Euphorie. Du rollst unter Vogelgezwitscher über den leeren Parkplatz, der Angestellte sieht dich, lässt sich aber nicht beirren. Brötchenbleche werden konstant weiter von links nach rechts geräumt. Fahrrad anlehnen und rein da, Widerstand im Handgelenk, ist die Zugangstür etwa widerspenstig? Das Schild mit den Öffnungszeiten sagt dir es liegt wirklich an der Tür.

Du hättest die halbe Stunde bis zur Bäckerei-Öffnung warten sollen, hier kommt nichts, überhaupt nichts mehr, nicht fein. Du wirst schon wieder am Straßenrand auf verkäufliche Kartoffeln und Eier hingewiesen, dein Gaskocher liegt zuhause, keine Option.

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Nindorf. Huch, schon wieder, bist du im Kreis gefahren? Nindorf hast du doch vorhin durchfahren, muss ein neues Nindorf sein. Du bist müde, reine Kopfsache, alles andere arbeitet genau so wie es soll.

Du passierst ein weiteres Ortsschild, Celle. Gleich hinter dem Schild ein Bäcker, Vorfreude steigt ins Unermeßliche. Die Tür steht offen und hängt im Windhaken, drinnen bezahlt ein Kunde, beruhigend. Du entdeckst in der Auslage keine belegten Brötchen, die Angestellte ist so nett und schmiert welche, voll gut. Der heiße Kaffee wird ruckartig zu deinem Lebensmittelpunkt.

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Das Frühstück ist beendet, Rad aufschließen und alles wieder verstauen, dann weiter. Ach, Wasser. Die Angestellte füllt gerne auf, sie reicht dir die Flaschen zurück, deine Hände werden warm. Sag nichts, ein paar Kilometer und der Fahrtwind kühlt das warme Wasser sowieso wieder runter. Du bedankst dich und winkst noch zum Abschied.

Irgendwo im Raum Peine, weites Flachland, alles dreht sich, also auf den Feldern, Windräder soweit deine Augen reichen. Wunderbar, schöner Anblick, und mit der täglichen Beschallung Klimawandel in den Medien ein Lichtblick. Der Gegenwind wird stärker, die Windräder erzeugen mehr Energie, du verbrauchst mehr.

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Eine ziemlich lange Zeit schweifen deine Gedanken völlig ab. Ein kleines Windrad am Lenker, stromerzeugend, speist deine Powerbank. Witziges Konzept, du musst schmunzeln.

Die Sonne kommt langsam durch, die Wolken weichen etwas, gelegentlich nun auch mal Blau, am Horizont größere Hügel. Die ersten leichten Anstiege, konstant Wind im Gesicht, das wird nun zäh. Deinen momentanen Schnitt wird das völlig zerrupfen, egal.

Ein bisschen Klamotte kann runter, die Sonne scheint mehr und mehr, die Temperaturen steigen. Du pedalierst stumpf mit Gegenwind vor dich hin, viele Ortsschilder und Panoramen reihen sich langsam aneinander, du kannst dir wenig merken. Dir wird klar, das gibt ein schwarzes Loch im späteren Bericht.

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Es geht bergauf, du schaltest, nicht. Dein Schalthebel blockiert, merkwürdig. Du drückst ein wenig stärker, es knackt lauter als gewöhnlich, es schaltet. Da musst du nach der Tour mal ein Auge drauf werfen, aber nicht jetzt, weiter, hoch hier.

Das Ortsschild Gittelde verschwindet hinter dir, du bist schon sehr Harz-nah. Am Straßenrand tut sich in einer Kurve ein dreckiges LED-Schild auf, es zeigt Spritpreise, alle enden auf 9/10-Cent. Eine Tankstelle, mit Shop. Toll, eine kalte Cola haben die bestimmt. Die Angestellte schweigt bei deiner Begrüßung, keine Miene. Du bezahlst und verabschiedest dich, wieder keine Regung. Hast du was im Gesicht? Kurzes Selfie vor der Tankstelle, nur zur Sicherheit, da ist nichts, gruselig.

Später, du schaltest hoch, es schaltet runter, Irritation. Schon wieder Zickerei in der Schaltung? Der Schalthebel klemmt wieder, jetzt schaltet es doch, unter lautem Knacken, aber wieder runter, statt hoch. Da stimmt was nicht, halt mal an. Äußerlich erkennst du nichts, im Stehen blockiert der Schalthebel nun völlig. Du bist gefangen, gefangen im 7. Gang von 11 Stück. Das wird nun spaßig, denkst du dir. Wie weit ist es noch? 30 km. Ach komm, die trittst du jetzt auch im Stehen runter, los, ab dafür.

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Den letzten Anstieg hast du, jetzt nur noch ins Ziel rollen und der Urlaub kann starten. Lange Abfahrt, das Dorfschild saust an dir vorbei, deine Familie winkt am Zaun vom Ferienbauerhof, großartig, Ziel erreicht.

“Papa, Papa, die haben hier einen Spielplatz im Heuboden! Komm schnell, ich zeig dir alles! PA-PA, los komm, wo bleibst du denn!? Den Helm kannst du später ausziehen!”

Los, du kannst dich auch später auspellen. Nach 15 Stunden Radfahren kommt es nun auch nicht mehr auf 5 Minuten Indoor-Spielplatz an.